Licht im steinernen Dunkel: Ketamin bei therapieresistenter Depression

Andrea S. Klahre | 5. Juli 2013

Autoren und Interessenkonflikte

Taugt das Anästhetikum Ketamin als Antidepressivum bei schwerer therapieresistenter Depression (TRD)? Mehr noch: Hat der zur Standardausrüstung von Notfallärzten (und Partydrogenkonsumenten) gehörende Tausendsassa in der Behandlung der uni- und bipolaren affektiven Störungen eine Zukunft? Diesen Fragen widmen sich seit wenigen Jahren vor allem amerikanische Arbeitsgruppen, u. a. am National Institute of Mental Health (NIMH), mit dem stets gleichen Ergebnis: Ja, und zwar wegen der sehr schnellen und verlässlichen Wirkung binnen weniger Stunden nach einer einzigen Injektion.

„Absolut“, bestätigt auch Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim, gegenüber Medscape Deutschland. „Momentan am Markt erhältliche Antidepressiva brauchen mehrere Tage bis zum Wirkeintritt; der extrem rasche Wirkeintritt von Ketamin ermöglicht die Hoffnung, künftig schneller behandeln zu können.“ Noch handele es sich aber um Forschung in frühen Stadien, gegenwärtig könne Ketamin nur in Studien eingesetzt werden.

Diese sind allerdings nicht nur sehr klein, sondern zeigen auch, dass die Ketamin-Effekte wahrscheinlich vor allem am Glutamat-NMDA(N-Methyl-D-Aspartat)-Rezeptorkomplex mit rund einer Woche nicht lange vorhält. Das genügt aber, um eine akute Suizidalität in den Griff zu bekommen.

Midazolam statt Kochsalz

Kürzlich haben Forscher des renommierten New Yorker Mount Sinai Medical Center anlässlich der Jahrestagung der American Psychiatric Association (APA) in San Franciscodie bisher größte klinische Ketamin-Studie bei refraktärer Major Depression vorgestellt, für die als Plazebo erstmals kein Kochsalz gewählt wurde, sondern mit dem kurz wirkenden Benzodiazepin Midazolam ein aktives Plazebo [1].

„Die Verwendung einer psychoaktiven Substanz hat es uns erlaubt, den antidepressiven Nutzen von Ketamin unabhängig von seiner anästhetischen Wirkung zu beurteilen“, sagt Dr. James Murrough, Assistant Professor der Psychiatrie am Mount Sinai und Erstautor der noch nicht publizierten und vom NIMH geförderten Studie, im Kongress-Video.

Murrough und Kollegen haben insgesamt 72 therapieresistenten Patienten mit einer nach DSM-IV diagnostizierten Major Depression intravenös entweder Ketamin-Hydrochlorid (0,5 mg/kg) über 40 Minuten oder Midazolam (0,045 mg/kg) verabreicht. Alle Patienten sind seit mindestens 20 Jahren schwer depressiv, haben auf durchschnittlich 5 unterschiedlich wirkende Antidepressiva nicht angesprochen, etwa ein Drittel hat mindestens einen Suizidversuch hinter sich, rund die Hälfte befindet sich regelmäßig in stationärer psychiatrischer Behandlung.

Allgemein gelten Patienten als therapieresistent, die nach frustranen Behandlungsversuchen mit 2 Antidepressiva in adäquater Dosierung über jeweils etwa 8 Wochen nicht relevant reagieren.

Mit Hilfe der Montgomery-Asberg Depression Rating Scale (MADRS) wurden vor und 1 Woche nach der Infusion Kontrollen in unterschiedlichen Zeitabständen durchgeführt. Das interessante Ergebnis: Innerhalb von 24 Stunden verbesserte sich bei 63,8% der Patienten in der Ketamin-Gruppe die depressive Symptomatik „dramatisch“ (MADRS 16,1 vs. 32,6 baseline), in der Plazebogruppe bei 28% (MADRS 22,3 vs. 31,1 baseline). Die Ketaminwirkung hielt 7 Tage bei 45,7% vs. 18,2% an, war an Tag 7 jedoch nicht mehr signifikant. Die bereinigten MADRS-Scores hingegen waren im Vergleich zum Ausgangswert statistisch signifikant mit p=0,0014.

Was künftig zu beweisen ist

„Wir konnten zeigen, dass Ketamin für den gewählten Zeitraum sicher und gut verträglich ist“, kommentiert Murrough die Ergebnisse. „Im nächsten Schritt brauchen wir größere Plazebo-kontrollierte Studien, die über 4 Wochen oder länger untersuchen, wie effektiv und sicher Ketamin wirklich ist – und sie müssen beweisen, dass die Wirkung nicht nur schnell eintritt, sondern auch persistiert.“

Denn in dem Stoff, aus dem zugegebenermaßen auch Halluzinationen sind, stecke nach wie vor ein erhebliches Potenzial für eine neue Behandlungsoption bei der unipolaren Depression, wenngleich die Wirkorte und -mechanismen der vielfältigen Effekte des NMDA-Antagonisten noch immer nicht ganz geklärt seien. „Ketamin ist eine dirty drug, mit Auswirkungen auf andere Neurotransmittersysteme neben dem Glutamat-NMDA-Rezeptorkomplex“, so Murrough.

Auch Meyer-Lindenberg schätzt die aktuelle Arbeit als das ein, was sie ist: „Sie bestätigt den bekannten Befund, dass eine Injektion von Ketamin einen rasch eintretenden antidepressiven Effekt hat, in einer größeren Gruppe und mit einer neuen Kontrollbedingung.“

Diese geht jetzt in die weitere Forschung zum Thema ein; außerdem gibt es andere bemerkenswerte Ansätze. Am Massachusetts General Hospital wird Ketamin erstmals als Kandidat für die Augmentation der Elektrokrampftherapie prospektiv evaluiert werden. Die Datenbank Clinical Trials listet neben dieser Studie 12 weitere allein zu den Stichworten „Major Depression + Ketamine“, für die derzeit weibliche und männliche Patienten ab 18 Jahre rekrutiert werden.

Murrough indes schließt im Juli dieses Jahres seine neueste Untersuchung ab (Clinical Trials NCT00548964): Seit Oktober 2007 wird an der Icahn School of Medicine am Mount Sinai die antidepressive Wirkung von Ketamin i. v. periodisch über den Zeitraum von 1 Woche getestet – zusammen mit Lithium zur Rückfallprophylaxe für jene Patienten, die initial auf Ketamin reagiert haben. Man darf gespannt sein.

Referenzen

Referenzen

  1. American Psychiatric Association Annual Meeting, 19. bis 20. Mai 2013, San Francisco.
    http://www.psychprogram.com/news/2013-APA-Annual-AtAGlance.html
  2. Murrough J, et al: “Antidepressant efficacy of ketamine in treatment-resistant depression: a two site, randomized, parallel-arm, midazolam-controlled, clinical trial"; Abstract NR5-05.
    http://www.eurekalert.org/pub_releases/2013-05/tmsh-kss051513.php

Autoren und Interessenkonflikte

Andrea S. Klahre
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Meyer-Lindenberg A, Murrough J: Es liegen keine Erklärungen zu Interessenkonflikten vor.

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