Chicago – „Für den Umgang mit Gluten, dem Klebereiweiß in vielen Getreidearten, ist der Mensch einfach nicht gemacht“, meint Prof. Dr. Alessandro Fasano, Direktor des Zöliakie-Forschungszentrums am Kinderkrankenhaus des General Hospital in Boston, Massachusetts, USA. Bei einem Symposium auf dem ADA-Kongress in Chicago beschrieb er die „Leaky-gut-Theorie“, nach der Gluten die tight junctions (Zonula occludens) der Darmmukosa schädigt und deren Durchlässigkeit erhöht [1]. „Kommen dann noch genetische Prädisposition und Umweltfaktoren hinzu, sind Inflammation und Autoimmunerkrankungen Tür und Tor geöffnet“, so Fasano.
Gemeinsame Risikogene für Zöliakie und Typ-1-Diabetes
„Besonders häufig tritt Zöliakie bei Menschen mit Typ-1-Diabetes auf: Etwa 5% von ihnen leiden daran“, erklärte der Diabetologe Prof. Dr. Thomas Danne, Chefarzt am Kinder- und Jugendkrankenhaus auf der Bult, Hannover, im Gespräch mit Medscape Deutschland. „Beide Autoimmunerkrankungen werden durch ähnliche Risikogene begünstigt. Es gibt mindestens 21 Risikogene für Typ-1-Diabetes und 11 für Zöliakie, 7 davon sind mit beiden Erkrankungen zugleich assoziiert.“
Eines der gemeinsamen Risikogene liegt laut Fasano auf Chromosom 16 und kodiert für Zonulin (früher: Zonula-occludens-Protein). Dieses steht in dem Verdacht, bei der Schädigung der tight junctions eine wichtige Rolle zu spielen. „Bei Typ-1-Diabetikern wie auch bei Zöliakiepatienten finden sich deutlich erhöhte Zonulinspiegel, teils schon Jahre vor Erkrankungsbeginn“, so Fasano.
„Ein Test auf Zonulin oder dessen Gen wird aber derzeit niemandem empfohlen“, relativierte Danne. „Stattdessen sollten bestimmte Kinder und Jugendliche regelmäßig auf den Zöliakie-spezifischen IgA-Antikörper gegen Gewebstransglutaminase, tTG, untersucht werden.“ Dazu gehören Kinder mit Zöliakie-typischer Symptomatik (gastrointestinale Beschwerden, Gedeihstörungen, Leistungsminderung) oder mit Typ-1-Diabetes und anderen häufigen Komorbiditäten der Zöliakie. „Ideal ist eine einmalige vorgeschaltete HLA-Typisierung“, so Danne: „Ist der Patient HLA-DQ2- und -DQ8 negativ, können die Antikörpertests unterbleiben.“
Die Glutenunverträglichkeit kann sich aber auch hinter nicht-gastrointestinalen Symptomen wie Eisenmangelanämie und Fatigue, herpesähnliche Hautausschläge, Osteopenie, Hepatitis, Arthritis und sogar Epilepsie verbergen. „Zöliakie beginnt im Darm, aber sie endet nicht unbedingt dort“, betonte Fasano und nannte die Krankheit ein „klinisches Chamäleon“.
Allergenkarenz? Leicht gesagt!
Eine ursächliche Behandlung der Zöliakie ist bisher nicht verfügbar, strikte und lebenslange Einhaltung einer glutenfreien Diät (GFD) ist angezeigt. „Das ist aber schwierig, weil Gluten in vielen Lebensmitteln – erkennbar oder versteckt – enthalten ist“, betonte auf dem ADA-Kongress Carol Brunzell, Ernährungs- und Diabetesberaterin am Medical Center, Fairview, Universität von Minnesota, USA.
Dazu kommen uneinheitliche Kennzeichnungspflichten. Sie betreffen ohnehin nur verpackte Lebensmittel und beinhalten lediglich Weizen und andere Getreidesorten, nicht aber Gluten per se. „Das Label ‚glutenfrei‘ wird zwar gern verwendet, wurde aber von der FDA noch immer nicht genau definiert“, kritisierte Brunzell. Ein Problem sei auch die unabsichtliche Kreuzkontamination vieler industriell hergestellter Lebensmittel.
Eine „Gluten Contamination Eliminating Diet“ (GCED) wurde kürzlich in einer kleinen Studie von Fasano getestet: Als einzige Getreideart war nicht aromatisierter brauner oder weißer Reis erlaubt. Auch frisches Obst und Gemüse, frisches Fleisch, Fisch und Eier, getrocknete Bohnen, ungewürzte Nüsse und reifer Käse durften gegessen werden. Milch, Butter und Naturjoghurt wurden erst nach 4 Wochen wieder in den Speiseplan eingeführt. Gewürzt und verfeinert wurde nur mit Öl, Essig, Honig oder Salz.
Ganz aus der Zutatenliste verbannt wurden sonstige Gewürze und Aromen, Konserven, gefrorenes und getrocknetes Obst, verarbeitetes Fleisch und Schinken. Auch alternative Getreidesorten, die sonst häufig von Zöliakiepatienten verwendet werden – wie Hirse, Sorghumhirse (Dari) und Buchweizen – waren verboten. Mit dieser Diät wurden 5 von 6 vermeintlich Diät-refraktären Zöliakiepatienten doch noch symptomfrei. Diese Kost ist aber bisher nicht in größeren Gruppen untersucht worden und wird auch nicht kommerziell angeboten.
GFD-Ferien nicht ratsam, aber üblich
Das macht den Alltag von Typ-1-Diabetikern mit Zöliakie nicht leichter. Dr. Jessica T. Markowitz, Klinische Psychologin am Joslin Diabetes Center in Boston, Massachusetts, USA, schilderte die Problematik am Beispiel eines hungrig heimkehrenden Teenagers, der an beiden Erkrankungen leidet: „Er kann nicht einfach den Kühlschrank plündern, wie sonst in dem Alter üblich“, so Markowitz. „Er muss erst 10 Fragen klären, vom eigenen Blutzuckerwert, geplanter Nahrungsmenge und Sport über den Kohlehydrat- und Glutengehalt der Nahrung bis zur Glaubwürdigkeit der aufgedruckten Zutatenlisten. Und das bei jeder Mahlzeit.“
So ist es nicht verwunderlich, dass in einer aktuellen Studie 19% der Zöliakiepatienten eingeräumt haben, ein- bis zweimal jährlich vorsätzlich glutenhaltige Nahrung zu essen; 13% tun dies sogar einmal monatlich.
Kausale Zöliakietherapie und -prävention noch nicht ausgereift
Zumindest eine gewisse Toleranz gegenüber Glutenspuren könnte künftig durch Lazarotide, ein gegen Zonulin gerichtetes Therapeutikum, ermöglicht werden, hofft Fasano. In mehreren Studien konnte Lazarotide zwar nicht die gestörte Darmpermeabilität verbessern, wohl aber die gastrointestinalen Symptome der Patienten [2, 3]. Und auch bei Typ-1-Diabetes weisen erste Studienergebnisse auf einen Benefit von Lazarotide hin: „Im Tiermodell konnte es die Zonulin-abhängig gesteigerte Inzidenz von Typ-1-Diabetes um 70% reduzieren“, so Fasano.
Neben Genausstattung und Umwelt sollte aber auch der dritte Mitspieler bei Autoimmunerkrankungen, die körpereigene Abwehr, stärkere Beachtung finden. „Wir können unsere Darmbarriere stärken, indem wir die Darmmikrobiota positiv beeinflussen“, meinte Fasano.
Die bakterielle Darmbesiedlung scheint ein entscheidender Faktor zu sein, der viele Menschen jahrzehntelang – selbst bei genetischer Prädisposition – glutentolerant bleiben lässt. Wie diese Erkenntnis in eine Therapie umgesetzt werden kann, ist aber noch nicht klar.