ÜBERSICHT
1) Hintergrund
Chronische Nierenerkrankungen (CNE) und Nierenversagen (NV) sind bereits seit den letzten zwei Jahrhunderten als signifikantes medizinisches Problem bekannt und nahmen bis vor nicht allzu langer Zeit einen fatalen Verlauf. Wissenschaftliche und technologische Fortschritte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben Nierenersatztherapien hervorgebracht, mit Hilfe derer vielen Patienten eine lebenserhaltende Behandlungsform angeboten werden konnte, was einem bemerkenswerten Fortschritt dank dieser medizinischen Entwicklungen gleichkommt.
Eine chronische Nierenerkrankung ist durch eine irreversible Veränderung der Nierenfunktion gekennzeichnet, die schrittweise bis zur terminalen Niereninsuffizienz (TNI) fortschreiten kann. Die chronischen Nierenerkrankungen stellen ein ernstzunehmendes Problem für das Gesundheitswesen dar. Daten des “United States Renal Data Systems (USRDS)” zeigen, dass die Inzidenz des Auftretens von Nierenversagen in der Erwachsenenpopulation steigt und mit schlechtem Outcome sowie hohen Kosten einhergeht (1). Zusätzlich hat auch die Inzidenz von CNE bei Kindern in den letzten beiden Jahrzehnten zugenommen, wobei insbesondere Kinder armer Familien und ethnischer Minderheiten betroffen sind (1).
Die gesundheitlichen Folgen von CNE umfassen nicht nur die Progression bis zum Nierenversagen, sondern auch das erhöhte Risiko kardiovaskulärer Erkrankungen. Evidenzbasierte Leitlinien empfehlen daher eine frühzeitige Diagnostik und Therapie der CNE und deren assoziierter Komplikationen, um Wachstum, Entwicklung und Lebensqualität betroffener Kinder zu gewährleisten. Eine geeignete pädiatrische Versorgung kann die Prävalenz dieser komplexen und kostenintensiven Erkrankung reduzieren.
Definition der CNE
Die Definition und Klassifikation der CNE hilft dabei, betroffene Patienten zu identifizieren und möglichst frühzeitig zu therapieren. Um dies zu erreichen, legte die Arbeitsgruppe der “Kidney Disease Outcomes Quality Initiative (KDOQI)” die CNE fest als “Nachweis von strukturellen oder funktionellen Nierenveränderungen (pathologische Urinanalyse, Bildgebung oder Histologie), die über mindestens 3 Monate fortbestehen, mit oder ohne verminderter glomerulärer Filtrationsrate (GFR) mit einem Referenzwert der GFR von weniger als 60 mL/min pro 1,73 m2” (2,3,4).
Es ist zu bemerken, dass die genannte Definition nicht auf Kinder unter 2 Jahren angewandt werden kann, da sie selbst nach Korrelation mit der Körperoberfläche eine niedrige GFR aufweisen. Um eine funktionelle Einschränkung der Nieren bei diesen Patienten nachweisen zu können, wird deren GFR anhand des Serum-Kreatininwertes im Vergleich zu normativen, altersentsprechenden Werten kalkuliert.
2) Ätiologie und Pathophysiologie
Die Hauptursachen für die Entstehung einer CNE bei Kindern sind folgend aufgelistet:
- Obstruktive Uropathie
- Hypo- oder dysplastische Nieren
- Refluxnephropathie
- Fokal-segmentale Glomerulonephritis als Variante des Nephritischen Syndroms bei Kindern
- Polyzystische Nierenerkrankung (autosomal-rezessiv oder –dominant vererbt)
Trotz der unterschiedlichen Ätiologien ist der nachfolgende Verlauf nach initialer Erkrankung der Nieren ähnlich. Anfänglich passt sich die Niere an die Schädigung durch Zunahme der Filtrationsrate durch die verbleibenden, physiologischen Nephrone an - ein Prozess, der als Hyperfiltration bezeichnet wird. Folglich weisen solche Patienten mit milder Ausprägung der Nierenerkrankung zunächst noch normale oder fast normwertige Serum-Kreatininwerte auf. Zusätzliche homöostatische Mechanismen (die meist in den renalen Tubuli stattfinden) führen dazu, dass die Serumkonzentrationen an Natrium, Kalium, Kalzium, Phosphat und der Gesamtwassergehalt des Körpers ebenfalls in ihren jeweiligen Referenzwerten bleiben, besonders bei denjenigen mit leichter oder milder Erkrankungsausprägung.
Die adaptive Hyperfiltration führt trotz ihrer initialen Kompensation langfristig zu einer irreversiblen Schädigung der Glomeruli der verbleibenden Nephrone, was sich dann anhand einer pathologischen Proteinurie und progressiv verlaufenden Niereninsuffizienz ablesen lässt. Die Unwiderrufbarkeit dieses Prozesses ist verantwortlich für die Entwicklung einer TNI bei den Patienten, bei denen die ursprüngliche Erkrankung entweder inaktiv ist oder geheilt wurde.
Auch wenn häufig die einer CNE zugrundeliegende Erkrankung nicht kausal behandelbar ist, haben weitreichende, tierexperimentelle Studien und vorläufige Studien beim Menschen gezeigt, dass das Fortschreiten einer CNE zu einem Großteil auf sekundäre Faktoren zurückzuführen ist, die nicht in Korrelation mit der Primärerkrankung stehen. Hierzu gehören Anämie, Osteodystrophie, systemischer und intraglomerulärer Hypertonus, glomeruläre Hypertophie, Proteinurie, metabolische Azidose, Hyperlipidämie, tubulointerstitielle Erkrankung, systemische Inflammationsreaktionen und ein veränderter Prostanoid-Metabolismus. Unabhängig von der Grunderkrankung haben diese sekundären Faktoren bei den verschiedenen CNE zu einem einheitlichen Management bei betroffenen Kindern geführt.
3) Epidemiologie
Statistik in den USA als Beispiel der Entwicklung der chronischen Nierenerkrankung in der westlichen Welt
Auf der Basis der Daten der „North American Pediatric Renal Transplant Cooperative Study (NAPRTC)“ hinsichtlich der chronischen Niereninsuffizienz wurden insgesamt 5,651 Patienten im Alter zwischen 2 und 17 Jahren registriert, die eine kalkulierte glomeruläre Filtrationsrate (GFR) von weniger als 75mL/min pro 1,73 m2 aufwiesen (5). In den vergangenen zwei Dekaden hat die Inzidenz der Erkrankung in allen ethnischen Gruppen kontinuierlich zugenommen. Desweiteren liegt die Inzidenz der chronischen Nierenerkrankung und ihre Progressionsrate zur terminalen Niereninsuffizienz bei beiden Geschlechtern gleichauf, obwohl obstruktive Uropathien bei Jungen frequenter sind.
Internationale Statistiken
Weltweit liegt die Prävalenz der CNE im Stadium II oder niedriger bei Kindern bei ungefähr 18,5 bis 58,3 pro 1 Million Kinder, somit deutlich niedriger als bei Erwachsenen. Laut einer indischen Studie machten Kinder 5,3 % aller Patienten mit CNE im eigenen Land aus (6). Daten aus der ItalKid-Studie berichteten von einer mittleren Inzidenz von 12,1 Fällen pro Jahr und 1 Million in der altersbezogenen Population (8,8 bis 13,9 Jahre) und einer Prävalenz in derselben Altersgruppe von 47,7 pro 1 Million (7). Allerdings scheint aufgrund eines Mangels an ausreichender Diagnostik betroffener Patienten die Prävalenz bei Kindern noch höher zu sein.
4) Prognose
Ist eine CNE erstmal diagnostiziert, scheint ein Fortschreiten der Erkrankung zur TNI vorprogrammiert. Allerdings hängt die Progressionsrate von der zugrundeliegenden Diagnose, der erfolgreichen Implementation sekundärer, präventiver Maßnahmen und vom einzelnen Patienten ab.
Ungefähr 70 % aller Kinder mit CNE entwickeln bis zum 20. Lebensjahr eine TNI. Kinder mit TNI weisen eine 10-Jahres-Überlebensrate von 80 % auf, wobei die altersspezifische Mortalitätsrate um das 30-Fache gegenüber Kindern ohne TNI gesteigert ist. Die häufigste Todesursache bei diesen Kindern sind kardiovaskuläre Erkrankungen gefolgt von Infektionen. Bezüglich der kardiovaskulären Ursachen nehmen der Herzstillstand (unklarer Genese) 25 %, der Schlaganfall 16 %, die Myokardischämie 14 %, das Lungenödem 12 %, die Hyperkaliämie 11 % und alle weiteren inklusive kardiale Rhythmusstörungen 22 % ein. Australische und neuseeländische Registerdaten zeigten, dass das Risiko zu versterben mit dem Zeitpunkt des Beginns einer Nierenersatztherapie assoziiert war, ebenso wie mit dem Alter des Patienten bei Therapiebeginn und dem verwendeten Dialyseverfahren (9).
Sinkt die kalkulierte GFR erstmals unter 30 ml/min/1,73m2 und tritt die Erkrankung ins Stadium IV über, sollten Kind und Angehörige auf den Beginn einer Nierenersatztherapie vorbereitet werden. Hierbei sollte eine Aufklärung über die Möglichkeiten einer präventiven Nierentransplantation, einer Peritonealdialyse und einer Hämodialyse erfolgen. Kommt eine Nierentransplantation nicht in Frage, wird die Wahl des Dialyseverfahrens oft von technischen, sozialen und Compliance- Gesichtspunkten sowie der Präferenz der Familie bestimmt. Die Peritonealdialyse ist bei Kindern und Kleinkindern sehr verbreitet.
Patienten mit Langzeitdialyse weisen eine hohe Morbidität und Mortalität auf. Bei diesen Kindern sollte eine Nierentransplantation angestrebt werden.
5) Patientenaufklärung
Kinder mit CNE und ihre Familien sollten über die Wichtigkeit und Notwendigkeit einer Compliance hinsichtlich sekundärer, präventiver Maßnahmen, verschriebener Medikamente (mit Betonung auf deren potenzieller Vor-und Nachteile) und einer Diät wie auch über den natürlichen Krankheitsverlauf und die Optionen einer Nierenersatztherapie aufgeklärt werden.
Informationen bezüglich einer Nierentransplantation, einer Peritoneal- oder Hämodialyse sollten einem Gespräch vorbehalten bleiben, wenn die GFR des betroffenen Kindes unter 30 mL/min pro 1,73 m2 und damit das Stadium IV erreicht wird.