Typ-1-Diabetes: Dem künstlichen Pankreas einen entscheidenden Schritt näher?

Sonja Böhm | 25. Juni 2013

Autoren und Interessenkonflikte

Chicago – „Ein großer Schritt vorwärts auf dem Weg zu einem automatisierten künstlichen Pankreas“ – mit diesen Worten kündigte Prof. Dr. Ann Peters, Universität von Süd-Kalifornien, eine Studie an, deren Ergebnisse jetzt bei der Jahrestagung der American Diabetes Association (ADA) in Chicago vorgestellt worden sind. In der Untersuchung war mit Hilfe der Kombination einer kontinuierlichen Glukosemessung mit einer speziell programmierten Insulinpumpe die Zahl und Dauer nächtlicher Hypoglykämien bei Menschen mit Typ-1-Diabetes signifikant um über 30% reduziert worden.

 

Prof. Dr. Richard M. Bergenstal
 

Die Pumpe ist in Deutschland schon länger verfügbar

Das Besondere an dem System: Die Pumpe stoppt automatisch die Insulinzufuhr für 2 Stunden, sobald die per Sensor gemessenen Glukosespiegel unter einen bestimmten Wert fallen – in der Studie lag dieser „Threshold“ bei 70 mg/dl. Das so genannte „Threshold Suspense Feature“, das hier getestet worden ist und derzeit von der US-Arzneimittelbehörde FDA geprüft wird, ist Teil des MiniMed 530 G Systems das Herstellers Medtronic. International wird es unter dem Label MiniMed Paradigm® Veo™ System vertrieben und ist in Deutschland – ebenfalls in Kombination mit kontinuierlichem Glukosemonitoring und Hypo-Abschaltung – schon seit längerem verfügbar.

Die jetzt beim ADA-Kongress vorgestellte Untersuchung ist jedoch die erste große randomisiert-kontrollierte Studie, in der dieses System geprüft wurde, berichtete Erstautor Prof. Dr. Richard M. Bergenstal, International Diabetes Center at Park Nicollet in Minneapolis, auf einer Pressekonferenz in Chicago. Die Studie, die zeitgleich im New England Journal of Medicine veröffentlicht worden ist, fand an 20 Zentren mit insgesamt 247 Teilnehmern statt [2]. Bei allen beteiligten Typ-1-Diabetikern waren nächtliche Hypoglykämien in der Anamnese dokumentiert. 121 von ihnen erhielten randomisiert den Glukosesensor plus Insulinpumpe mit dem entsprechenden „Threshold Suspense Feature“, das bei zu niedrigen Sensor-Messwerten die Insulinzufuhr für 2 Stunden unterbrach; 126 bekamen lediglich die Pumpe plus Sensor ohne die entsprechende Software.

Nächtliche Hypoglykämien signifikant um mehr als ein Drittel reduziert

Insgesamt dauerte die Untersuchung 3 Monate. Während dieser Zeit konnten diejenigen Patienten mit den Pumpen mit Hypo-Abschaltung ihre nächtlichen Unterzuckerungen reduzieren – und dies, ohne dass sich dabei ihre Blutzuckereinstellung, gemessen am HbA1c-Wert, verschlechterte. Die AUC (Area Under the Curve) für nächtliche Hypoglykämien als Maß für die Zahl, Ausprägung und Dauer der Unterzuckerungen war in der Gruppe mit automatischer Insulinabschaltung um 37,5% geringer als in der Kontrollgruppe. Nächtliche Hypoglykämien traten um 32% seltener auf – die Rate lag bei 1,5 anstelle von 2,2 solcher Ereignisse pro Woche und Patient.

 
„Aber wir sind jetzt wirklich sehr viel näher dran am automatisierten künstlichen Pankreas als all die Jahre und Jahrzehnte zuvor.“
Prof. Dr. Lutz Heinemannn
 

Während in der Kontrollgruppe 2,8% der Sensorwerte unter 50 mg/dl lagen, waren es in der Gruppe mit der Grenzwert-Einstellung nur 1,2% der Werte. Ähnliches galt auch im Bereich zwischen 70 und 50 mg/dl – derart niedrige Werte wurden ebenfalls in der Kontrollgruppe deutlich häufiger gemessen, berichtete Bergenstal. Auch er beurteilt die Studie „als entscheidenden Schritt in der Entwicklung eines voll automatisierten künstlichen Pankreas für Menschen mit Diabetes“.

Derzeit werde daran gearbeitet, die Algorithmen für das automatische Ein- und Ausschalten der Pumpe noch zu verfeinern, um das Ausmaß der Glukoseschwankungen weiter zu verringern, berichtete er. Im Schnitt betrug in der Studie der Glukosemesswert etwas mehr als 90 mg/dl zu dem Zeitpunkt, an dem die Insulinzufuhr wieder einsetzte, weitere 2 Stunden später lagen die Messwerte im Schnitt bei knapp 170 mg/dl.

Verschiedene Aspekte erschweren die Programmierung. So misst der Glukosesensor im interstitiellen Gewebe und nicht im Blut – niedrige Glukosespiegel machen sich in der Gewebeflüssigkeit jedoch zeitverzögert bemerkbar. Der Glukosesensor muss zudem regelmäßig mit Hilfe von Blutzuckermessungen kalibriert werden. Doch, so Bergenstal, haben sich die Sensoren in den vergangenen Jahren deutlich verbessert. Und derzeit werde an neuen Algorithmen gearbeitet, die nicht mehr einfach nur Grenzwerte nutzen, sondern auch den zeitlichen Abfall der Glukosewerte berücksichtigen.

 

Dr. Lutz Heinemannn
 

Die Koordination Pumpe und Sensor ist während der Nacht am einfachsten

Die Pumpe durch den Sensor steuern zu lassen, ist nachts am einfachsten, da die Blutzuckerspiegel dann stabiler und nicht so vielen äußeren Einflüssen ausgesetzt sind wie tagsüber, etwa durch Bewegung und Nahrungsaufnahme. Schwieriger als das Hypo-Management ist es auch, die Pumpe so zu programmieren, dass sie bei zu hohen Blutzuckerwerten die Insulinabgabe entsprechend steigert, dies aber so dosiert, dass nicht gleichzeitig ein Risiko für Unterzuckerungen besteht.

„Dies wird der nächste Schritt sein“, sagte Bergenstal. „Vielleicht können wir die Algorithmen so modifizieren, dass die Abgabe von Insulin und eventuell anderen Hormonen so angepasst erfolgt, dass sich die Blutzuckerspiegel auch während des Tages – sogar während Mahlzeiten oder beim Sport – stabil halten lassen, was heutzutage noch ziemlich schwierig ist.“

Apropos Sicherheit: Auch das jetzt getestete „Threshold Suspending Feature“ kann manuell unterbrochen werden, wenn etwa der Typ-1-Diabetiker während der nächtlichen Hypoglykämie erwacht und sich entscheidet – nach einer zuvor durchgeführten Blutzucker-Messung zur Bestätigung des Alarms – doch lieber seinen Blutzucker durch Kohlenhydrataufnahme, etwa einen Fruchtsaft, wieder anzuheben und die unterbrochene Basalrate wieder zu starten.

Wie nah ist das künstliche automatische Pankreas tatsächlich?

„Man kann sich kaum unglaubwürdiger machen als mit der Voraussage, die wir seit 30 bis 40 Jahren hören – in den nächsten 2 bis 3 Jahren werden wir ein solches System haben“, kommentiert Prof. Dr. Lutz Heinemannn vom Profil Institut für Stoffwechselforschung in Neuss/San Diego, der seit Jahren auf diesem Gebiet forscht.

„Doch“, so ergänzt er, „wir wollen in Deutschland im kommenden Jahr mit Studien beginnen, in denen Typ-1-Diabetespatienten zuhause unter Alltagsbedingungen 3 Monate lang ein solches Closed loop-System tragen werden. Es gibt bereits Vorstudien mit europäischen Partnern, in denen Typ-1-Diabetiker immerhin eine Woche ein solches System getragen haben. Die Patienten waren sehr begeistert.“

Der entscheidende Unterschied zu den letzten Jahrzehnten ist nach seiner Auskunft: „Wir haben das experimentelle Stadium mit der Anwendung unter vollkommen kontrollierten Bedingungen verlassen; die Patienten setzen es jetzt im Alltag zuhause ein.“ Auch in den USA gebe es bereits  eine Studie mit Patienten, die ein solches Closed loop-System unter normalen Alltagsbedingungen tragen.

Für die Sicherheit sorgten eindeutige Warnhinweise, Programmierungen, so dass sich die Pumpe in bestimmten Situationen ausschaltet, und natürlich regelmäßige Blutzuckermessungen der Patienten – zum Teil auch ein telemedizinisches Monitoring.

Die in Europa für das kommende Jahr geplante Studie umfasse mindestens 30 Teilnehmer. Derzeit laufe eine Studie mit je 8 Teilnehmern an 3 Zentren. Wie Heinemann erläutert, stößt man bei größeren Teilnehmerzahlen an Grenzen bei der Betreuung und Datenauswertung.

Sein Fazit: „Viele Probleme sind heute durch angepasste Algorithmen besser in den Griff zu bekommen – etwa das Timelag zwischen Blutglukose und Gewebeflüssigkeit. Ich sage nicht, dass alle Probleme gelöst sind. Aber wir sind jetzt wirklich sehr viel näher dran am automatisierten künstlichen Pankreas als all die Jahre und Jahrzehnte zuvor.“

Referenzen

Referenzen

  1. American Diabetes Association, 73rd Scientific Sessions, 21. bis 25. Juni 2013, Chicago, USA.
    http://professional.diabetes.org/Default.aspx
  2. Bergenstal RM et al: NEJM (online) 22. Juni 2013.
    http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa1303576?query=featured_home

Autoren und Interessenkonflikte

Sonja Böhm
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Die Interessenkonflikte der an der Studie beteiligten Autoren sind im Originalartikel im NEJM gelistet.

Heinemann L: Berater bei einer Reihe von Firmen, die neue diagnostische und therapeutische Optionen für die Behandlung von Patienten mit Diabetes entwickeln. Er ist Anteilseigner bei Profil Institut für Stoffwechselforschung, Neuss und Profil for Clinical Research, San Diego, USA.

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