
Mailand – Ein systolischer Blutdruck von unter 140 mmHg reicht auch bei Hochrisikopatienten aus – das ist die wohl deutlichste Neuerung der ESH-Leitlinien, die die European Society of Hypertension (ESH) und die European Society of Cardiology (ESC) jetzt auf dem 23. European Meeting on Hypertension & Cardiovascular Protection in Mailand vorgestellt haben [1].
Für Diabetiker und Patienten mit Nierenschäden oder kardiovaskulären Vorerkrankungen gelten damit die gleichen Richtwerte wie für Patienten ohne Organschäden. Das ist bedeutsam, hatte doch die Leitlinie aus dem Jahr 2007 für Hochrisiko-Patienten noch einen Zielwert von 130/80 mmHg ausgegeben.
Dass das Leitlinien-Komitee um Dr. Giuseppe Mancia von der Universität Mailand in Italien und Prof. Dr. Robert Fagard von der Universität Leuven in Belgien den Zielwert gelockert hat, stellt eine Vereinfachung dar, erklärt Dr. Paulus Kirchhof vom Centre for Cardiovascular Science an der University of Birmingham und vom Department für Kardiologie und Angiologie, Universitätsklinikum Münster, auf Nachfrage von Medscape Deutschland. In den Leitlinien 2007 hatte es noch diverse Unterscheidungen nach Untergruppen gegeben, die mit der Vereinheitlichung jetzt wegfallen: „Für die Praxis ist das hilfreich“, kommentiert Kirchhof.
Hypertonie im Kontext eines Gesamtrisikos
Die Vereinfachung kommt wohl auch der Realität näher, denn Zielwerte von 130/80 mmHg werden selten erreicht. Und gelingt die Senkung – wie in der ACCORD-Studie mit Typ-2-Diabetikern – zeigte sich kein günstiger Effekt auf die Rate von kardiovaskulären Erkrankungen [2]. Im Gegenteil: Es kam vielmehr zu einem Abfall der glomerulären Filtrationsrate – was auf eine Nierenschädigung durch zu aggressive blutdrucksenkende Therapie hinweist.
Allerdings legt die Leitlinie stärker als ihre Vorgänger Wert darauf, Hypertonie nicht isoliert, sondern im Kontext des kardiovaskulären Gesamtrisikos zu betrachten. Kirchhof: „Die Intensität der Behandlung richtet sich nach dem kardiovaskulären Risiko. Daraus ergibt sich, dass bei jedem Patienten mit arterieller Hypertonie gezielt nach kardiovaskulären Begleitrisiken gesucht werden muss.“ Bei über 80-Jährigen reichen systolische Blutdruckwerte von unter 160 mmHg aus, und bei Patienten, die jünger als 80 Jahre sind, sollte der systolische Druck bei 140-150 mmHg liegen.
Auf 72 Seiten geht die Leitlinie auf spezielle Gruppen wie Diabetiker, jüngere und ältere Patienten sowie Frauen ein. Sie weist darauf hin, dass Kontrazeptiva oder eine Hormontherapie bei Frauen den Blutdruck ansteigen lassen, und dass sich nach einem Gestationsdiabetes eine dauerhafte Hypertonie entwickeln kann.
Einen weiteren Schwerpunkt legt das Dokument auf das ambulante Blutdruck-Monitoring (ABPM), das in vielen Situationen als Alternative zur 24-Stunden-Langzeitmessung anerkannt wird. Ausdrücklich ausgenommen sind allerdings die Abklärung der nächtlichen Hypertonie, die Blutdruck-Variabilität und das Dipping. „Das ambulante Blutdruck-Monitoring und die Messung beim Arzt liefern unterschiedliche Informationen und sollten als komplementär betrachtet werden“, betont Fagard bei der Vorstellung der Leitlinien.
Lifestyle-Änderungen für hoch-normale Werte
Wie schon 2007 werden auch 2013 Hypertonie-Patienten in 4 Kategorien eingeteilt. Hoch-normale Blutdruckwerte sollten jetzt vor allem durch Diät und Änderung des Lebensstils gesenkt werden. So sollte die Salzaufnahme auf maximal 5-6 g pro Tag beschränkt werden – im Gegensatz zu den derzeit gängigen Grenzwerten von 9-12 g pro Tag. Eine Reduktion auf 5 g pro Tag kann den systolischen Blutdruck um 1-2 mmHg bei normotensiven Patienten, und um 4-5 mmHg bei hypertensiven Patienten senken.
Und obwohl der optimale Body-Mass-Index (BMI) nicht bekannt ist, empfiehlt die Leitlinie, den BMI auf unter 25 kg/m² und den Taillenumfang auf <102 cm bei Männern und <88 cm bei Frauen zu halten. Ein Gewichtsverlust von 5 kg kann demnach den systolischen Blutdruck um bis zu 4 mmHg reduzieren, während Aerobic-Ausdauertraining bei hypertensiven Patienten den systolischen Druck um 7 mmHg verringern könne. Die wichtige Rolle von Lifestyle-Änderungen hebt auch Kirchhof hervor, in einigen Fällen reichten allein schon diese, um den Blutdruck nachhaltig zu senken.
Doch ob die guten Vorsätze dann auch wirklich von den Patienten umgesetzt werden? Kirchhof sieht es als wichtige Aufgabe der Fachgesellschaften, noch stärker auf diese primären Präventionsmaßnahmen hinzuweisen. „Wir müssen wahrscheinlich stärker als bisher andere Wege nutzen, um präventive Maßnahmen zur Reduktion von Blutdruck und kardiovaskulärem Risiko besser umzusetzen, ohne dabei den Patienten als freiheitlich bestimmten Menschen aus dem Blick zu verlieren.“
Sinnvoll könne möglicherweise auch sein, Arzt-Patienten-Gespräche am Erfolg gemessen zu honorieren. „Ärzte lassen Patienten mit geringem oder moderatem Risiko ein paar Monate Zeit für die Änderung des Lebensstils. Bei Hochrisiko-Patienten empfiehlt es sich aber, aggressiver vorzugehen“, rät Fagard und erläutert: „Erweisen sich Diät und Sport als ineffektiv, sollte man nach wenigen Wochen die medikamentöse Therapie starten.“
Auch in der Medikation Tendenz zu leichterer Anwendbarkeit
Erst Monotherapie und dann Kombi? Oder gleich direkt die Kombination? „Bei vielen Patienten ist der Blutdruck mit einer Monotherapie nicht gut genug eingestellt. Hier empfehlen die Leitlinien als gleichwertige Schritte eine Kompbinationstherapie oder eine Monotherapie in höherer Dosierung“, so Kirchhof. In den neuen Leitlinien gibt es keine besseren oder schlechteren Antihypertonika mehr. Kirchhof: „Auch in der Medikation zeigt sich die Tendenz zur Vereinfachung, zur leichteren Anwendbarkeit. Die Begleiterkrankungen bestimmen die Auswahl der Antihypertensiva“. Dieses Vorgehen, so Kirchhof, entspreche auch publizierten Vorschlägen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Die Leitlinien machen den behandelnden Ärzten explizit Vorschläge zu Behandlungsstrategien im Hinblick auf das kardiovaskuläre Gesamtrisiko des Patienten.
Darüber hinaus raten sie davon ab, ACE-Hemmer mit Angiotensin-Rezeptorblockern (ARBs) zu kombinieren. Vorbehalte gibt es auch gegen die duale Blockade des Renin-Angiotensin-Systems (RAS) wegen möglicher Hyperkalämie, zu niedrigem Blutdruck und Nierenversagen. Die EMA hat kürzlich eine Review zur Sicherheit der dualen RAS-Blockade gestartet auf der Basis einer 2013 im British Medical Journal erschienenen Metaanalyse, die bei der gemeinsamen Gabe von ARBs und ACE-Inhibitoren ein erhöhtes Risiko nachgewiesen hatte [3].
Renale Denervation als zusätzliche Option
„Bei manchen Hypertonie-Patienten – die Zahlen liegen zwischen 3% und 10% – lässt sich auch mit 3 bis 4 Antihypertonika der Blutdruck nicht ausreichend senken; der liegt dann immer noch bei 160 mmHg“, erklärt Kirchhof. Solche Patienten gelten als resistent, medikamentös ist ihnen nicht zu helfen. „In solchen Fällen ist die renale Denervation als zusätzliche Option ein viel versprechendes Verfahren“, so der Experte.
Studien an Hunderten von Patienten konnten nachweisen, dass die renale Denervation den Blutdruck über einen Verlauf von einigen Jahren senkt. „Ob damit allerdings auch eine Verringerung der kardiovaskulären Ereignisse einhergeht, ist Gegenstand laufender und geplanter Untersuchungen“, stellt Kirchhof klar. Die neuen Leitlinien fordern weitere Daten von Langzeitversuchen und tragen damit der Situation um den interventionellen Eingriff Rechnung.
Kirchhof sieht in der Stellungnahme „im Vergleich zu 2007 eine große Öffnung“. Dies auch vor dem Hintergrund, dass das Verfahren in Deutschland längst praktiziert wird, in den USA hingegen noch gar nicht zugelassen ist: „Derzeit laufen Zulassungsstudien in den USA; die Senkung des Blutdrucks gilt dabei als akzeptierter Surrogatparameter.“