Seit nunmehr 4 Wochen breiten sich die Masern in München aus. Allein in der Kalenderwoche 19 gab es 21 Fälle der vermeintlich harmlosen Kinderkrankheit in der bayerischen Hauptstadt. Beim Referat für Gesundheit und Umwelt (RGU) der Stadt München sind mittlerweile mehr als 70 Fälle von Masern gemeldet, täglich kommen neue hinzu. Das bestätigt Karin Zettler, Sprecherin des RGU auf Anfrage von Medscape Deutschland: „Wir gehen davon aus, dass die Zahlen noch steigen“, so Zettler.
Meist sind Jugendliche und junge Erwachsene betroffen, nur bei 6 Erkrankten handelt es sich um Kinder. „Der Verlauf der Erkrankungen ist nicht unkompliziert, mehrheitlich müssen die Patienten stationär behandelt werden“, berichtet Zettler. Die am stärksten Betroffenen sind 1970 oder später geboren, „entweder wurden sie gar nicht geimpft oder die zweite Masernimpfung fehlt“, erklärt Zettler.
Viele Patienten sind ein Fall für die Klinik
„Die Masern beschäftigen uns im Moment sehr", bestätigt Dr. Michael Seilmaier, Oberarzt an der Klinik für Hämatologie, Onkologie, Immunologie, Palliativmedizin, Infektiologie und Tropenmedizin m Klinikum Schwabing des Städtischen Klinikums München im Gespräch mit Medscape Deutschland. Über 20 Patienten mussten in den letzten 2 Wochen stationär aufgenommen werden. Die infektiologische Abteilung des Städtischen Klinikums ist eine der Hauptanlaufstellen für die mit Masern Infizierten. „Die meisten unserer Patienten sind zwischen 20 und 30 Jahre alt und weisen ein schweres Krankheitsgefühl auf, also hohes Fieber, starke Kopfschmerzen, meist kommt eine Konjunktivitis dazu", erklärt der Internist und Infektiologe.
Komplikationen wie eine Enzephalitis (Risiko etwa 1:10.000), Pneumonien oder Otitis media weisen die Fälle glücklicherweise selten auf, doch auch ohne zusätzliche Komplikationen seien die Patienten stärker beeinträchtigt. „Bis zur Rekonvaleszenz, also bis sich die Patienten richtig erholt haben und wieder fit sind, dauert es häufig schon 3 Wochen", bestätigt Seilmaier.
Masern sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen: In 10-20% der Fälle kommt es zu schweren Komplikationen. Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Folgeerkrankungen steigt mit dem Alter. Neben Jugendlichen und Erwachsenen sind auch Säuglinge gefährdet, deren Mutter keine Immunität aufweist oder nicht geimpft ist. „Masern sind nicht zu verharmlosen, auch Kinder stecken Masern nicht unbedingt leichter weg als Erwachsene, die sind auch richtig krank", erklärt Seilmaier. Jedes Jahr, so der Infektiologe, sterben weltweit weit über 500.000 Menschen an Masern. Überwiegend handelt es sich um Kinder in Entwicklungsländern.
Versäumnis früherer Tage
Was hat zum Ausbruch der Masern geführt? „Das ist ein Versäumnis früherer Tage“, stellt Susanne Glasmacher vom Robert Koch-Institut (RKI) gegenüber Medscape Deutschland klar. Seit 1973 wird gegen Masern geimpft, seit 1980 gibt es den MMR-Impfstoff gegen Masern, Mumps und Röteln. „Allerdings wird erst seit 1991 die zweite Impfung empfohlen”, so Glasmacher. Und nur wer zweifach geimpft ist, weist einen Schutz von über 95% auf. Hinzu kommt: 1991 wurde die zweite Impfung für das Alter 2 bis 5 Jahre empfohlen: „Das ist ein Alter, in dem ein Kind kaum noch zum Kinderarzt geht, es sei denn, es ist krank oder verletzt.“
So kam es 2001 zu der Empfehlung, die Impfung auf das zweite Lebensjahr vorzuziehen, so dass im Rahmen der U-Untersuchungen geimpft werden kann. „Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die jetzt in Bayern an Masern erkrankt sind, sind quasi in dieses Loch gefallen“, erklärt Glasmacher. Aufklärung tut not und so macht das RGU mit Medienkampagnen und einem Kinospot auf den fehlenden Impfschutz aufmerksam.
Mit „Impfmüdigkeit“ haben die Impflücken nach Einschätzung des RKI jedoch wenig zu tun. „Wir verwenden diesen Begriff nicht, denn er impliziert, es habe einmal eine höhere Impfbereitschaft gegeben, und die Leute wurden dann quasi müde“, stellt Glasmacher fest. Dem sei aber nicht so: „Im Gegenteil, bei den Schulanfängern wird der Impfstatus tendenziell immer besser.“ Bei der ersten Impfung liege die derzeitige Impfquote bei 95%, bei der zweiten Impfung bei 92%.
Allerdings gebe es auch Landkreise mit Impfquoten von nur 70%. „Das hat dann schon mit der Impfskepsis der Leute zu tun, vor allem in wohlhabenderen Regionen.“ Was impfkritisches Denken angehe, stelle man einerseits eine größere Skepsis in den höheren sozialen Schichten fest – aber auch in Familien mit einem niedrigeren sozialen Status, in denen Kinder sich selbst überlassen blieben, gebe es niedrigere Impfquoten. „Bei Kindern, die morgens kein Frühstück bekommen, schaut auch keiner, ob sie geimpft sind oder nicht.“
Ausreichender Impfschutz?
In der Schwabinger Klinik rufen derzeit verstärkt verunsicherte Patienten und Kontaktpersonen an, bestätigt Seilmaier. Wer einmal gegen Masern geimpft sei, dürfe sich nicht in falscher Sicherheit wiegen. Viele der Erkrankten seien in der Kindheit nicht ausreichend geimpft worden: „Manche sind gar nicht geimpft, viele sind sich über ihren Impfstatus auch gar nicht im Klaren."
Die zweimalige Impfung ist Voraussetzung für einen sicheren Schutz, allerdings zeige auch eine inkomplette Impfung bisweilen eine gewisse Wirkung: „Die Krankheitsverläufe sind oft tendenziell etwas leichter." Wer unsicher ist, ob sein Impfschutz ausreicht, solle beim Hausarzt die Titer bestimmen lassen und sich gegebenenfalls nachimpfen lassen: „Der Impfschutz ist dann innerhalb weniger Tage aufgebaut."
Der jetzige Erkrankungswelle überrascht den Infektiologen nicht wirklich. „Es gab ja immer wieder einige Fälle in den letzten Jahren. In Berlin gab es Anfang des Jahres eine kleine Häufung, bundesweit waren in den letzten Jahren um die 1.600 Fälle von Masern pro Jahr zu verzeichnen.“
Schlimmer habe es aber unsere Nachbarn getroffen. So wurden in Frankreich 2011 über 15.000 Masernfälle gemeldet. Ähnlich hohe Fallzahlen sind aus der Ukraine und Rumänien bekannt. Im tropischen Afrika ist die Situation noch schlimmer. „Im Kongo allein traten seit 2010 weit über 100.000 Fälle auf“, berichtet Seilmaier. Das zeige, dass epidemiologisch weltweit eine hohe Masernaktivität vorliege.
Eine Impfung empfiehlt sich gerade bei Masern: „Therapeutisch kann man nicht viel anbieten, aber es ist eine hervorragend impfpräventable Erkrankung“, betont Seilmaier. Die derzeitigen Patienten jedenfalls profitieren nicht von diesem Wissen, und ein Abebben der Masernerkrankungen in München sei weiterhin nicht in Sicht: „Wir haben weiterhin 2 bis 4 Neuzugänge pro Tag.“