Wie wichtig es ist, auch etablierte Behandlungsabläufe mit qualitativ hochwertigen Studien zu überprüfen und sich dabei nicht durch Lobbyisten der Industrie einschüchtern zu lassen, zeigt sich derzeit eindrucksvoll in der Intensiv- und Notfallmedizin, am Beispiel der Infusionsbehandlung mit Hydroxyethylstärke (HES)-haltigen Lösungen.
Der aus Wachsmais- oder Kartoffelstärke hergestellte kolloidale Volumenersatz, der bei Patienten mit schwerer Sepsis bzw. septischem Schock und bei anderen Intensivpatienten jahrelang zum Standard zählte, um im Gefäßsystem bei akutem Flüssigkeitsverlust den kolloidosmotischen Druck zu erhöhen und zu erhalten, ist nach aktuellen Studienergebnissen riskant.
Im Vergleich zu einfachen Elektrolytlösungen (Kristalloide) oder Albumin hat HES keine Vorteile, sondern wirkt – ob höher- oder niedermolekular – nephrotoxisch und ist mit einem signifikant erhöhten Risiko für akutes Nierenversagen mit Dialysepflicht verbunden, ebenso mit mehr Blutungen respektive Bluttransfusionen und – dosisabhängig –mit einer erhöhten Mortalität.
„In mehr als 40 Jahren Forschung konnten keine klaren Vorteile künstlicher Kolloide beim kritisch Kranken identifiziert werden“, betont Prof. Dr. Michael Bauer, Leiter des vom BMBF geförderten Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrums Sepsis und Sepsisfolgen (Center for Sepsis Control and Care, CSCC) am Universitätsklinikum Jena, auf Nachfrage von Medscape Deutschland. „Die Botschaft der Evidenz-basierten Medizin ist eindeutig: Künstliche Kolloide haben substanzspezifische Risiken und sind teurer.“
Als besorgniserregend bezeichnet der Intensivmediziner die sich verdichtende Datenlage, „dass in ausreichend gepowerten Studien mit adäquater Nachbeobachtungszeit ein Signal zur persistierenden Verschlechterung der Nierenfunktion oder sogar der Übersterblichkeit auftritt.“
In der Tat: Was die ersten 3 großen randomisiert-kontrollierten, teilweise doppelblinden Studien aus Deutschland (VISEP mit 537 Patienten; musste vorzeitig abgebrochen werden), Dänemark (6S Trial Group mit 798 Patienten; primärer Endpunkt PE: Tod oder terminale Niereninsuffizienz) und Australien (CHEST mit 6.651 Patienten; PE: 90-Tage-Mortalität nach Randomisierung) zwischen 2008 und 2012 bereits dargestellt haben, wird jüngst durch 3 Metaanalysen, wiederum aus Dänemark und Australien sowie aus Kanada, mit insgesamt 24.727 Patienten, summa summarum bestätigt [1-6].
Studienfälschungen zugunsten von HES
Die Autoren der im JAMA veröffentlichten kanadischen Analyse (38 Studien mit 10.880 Patienten) um Dr. Ryan Zarychanski, University of Manitoba, schlussfolgern, dass die klinische Anwendung von HES für den akuten Ausgleich eines intravaskulären Volumenmangels aufgrund gravierender Sicherheitsbedenken nicht gerechtfertigt ist – „insbesondere nicht nach Ausschluss von 7 Studien eines Forschers, dessen Arbeiten zugunsten von HES gefälscht waren.“ In der April-Ausgabe des Arzneimittelbrief wird ein Anästhesist aus Ludwigshafen genannt, dem eine unabhängige Untersuchungskommission in Studien mit HES Fälschungen nachgewiesen hatte [7].
Auf Initiative Deutschlands bewertet die EMA nun seit kurzem –„endlich“ sagen nicht wenige Sepsisforscher – in einem offiziellen Verfahren (Referral Procedure, Article 31 of Directive 2001/83/EC) das Nutzen-Risiko-Verhältnis völlig neu und entscheidet noch in diesem Jahr, ob die europäische Marktzulassung erhalten bleibt, verändert, suspendiert oder entzogen wird. Inzwischen überprüft auch die amerikanische FDA die Zulassungsbedingungen für die Produkte.
Bis für Europa eine endgültige Evaluation aller Daten vorliegt, empfiehlt das BfArM, in Deutschland auf HES in der klinischen Routine bei Patienten mit schwerer Sepsis zu verzichten [8]. Bei intensivmedizinischen Patienten sollten kristalloide Lösungen bevorzugt werden. Diese scheinen ebenso wirksam, aber nebenwirkungsärmer zu sein und sind preiswerter.
Die infundierte HES wird im Serum nicht komplett metabolisiert und somit nur zum Teil über die Niere ausgeschieden. Ein Rest wird als toxischer Fremdkörper u. a. in Leber, Milz, Niere, Lunge, Skelettmuskel, Lymphknoten und Haut eingelagert. Das ist im Fall einer Sepsis eher schädlich als nützlich. Wenngleich die Langzeitfolgen, insbesondere am Nervensystem, noch weitgehend unverstanden sind, weiß man von der Speicherung in der Haut, dass ein erheblicher, nicht selten über mehrere Jahre anhaltender Juckreiz folgen kann [8].
„Erkaufte höhere Sterblichkeit“
„Wir geben in Greifswald seit vier Jahren kein HES bei der Sepsis und seit einem Jahr generell kein HES mehr.“ Auch Dr. Matthias Gründling, Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Universitätsklinikum Greifswald, und Leiter des Qualitätsmanagementprojektes Sepsisdialog bezieht gegenüber Medscape Deutschland klare Position:
„Leider sind viele Kollegen in Deutschland wegen der `jahrelang guten Erfahrungen´ nicht bereit, die eindeutige Datenlage zu akzeptieren. Es ist eine Frage der Zeit, bis eine Welle von Klagen wegen Behandlungsfehlern kommt. Die Behörden müssen die Substanz vom Markt nehmen, damit endlich die damit erkaufte höhere Sterblichkeit verschwindet. Es gibt jedoch eine massive Lobby der Industrie, die bis in die Fachgesellschaften hineinreicht – auch in Deutschland.“
Und damit wirkt sie bis in die Leitlinien, jedenfalls bis in die erste Version der internationalen Surviving Sepsis Campaign (SSC) 2004, „als eine Unterstützung durch die Industrie noch nötig war, um die finanziellen Hürden zu stemmen“, schreibt Prof. Dr. Herwig Gerlach, Klinik für Anästhesie, op. Intensivmedizin und Schmerztherapie, Vivantes-Klinikum Neukölln/Berlin, in Intensiv News, dem Forum für Intensiv- und Notfallmedizin der österreichischen Fachgesellschaften [9].
Bei der ersten Revision 2008 sei dies zwar nicht mehr der Fall gewesen, doch viele Gesellschaften hätten gezögert, die Guidelines offiziell zu unterstützen. „Für die aktuellen Leitlinien 2012 wurden die Bandagen daher noch härter angezogen, ... zudem hatten mehrere wichtige Gesellschaften eigene Gutachter beim Review-Prozess“, so Gerlach. Die American Thoracic Society bestand gleich auf 5 eigene Reviewer. Für die künstlichen Kolloide bedeutet dies gemäß SSC 2012: Sie sind endgültig vom Tisch, insbesondere HES mit einer starken Empfehlung. Es gibt keine Evidenz [10].
Hotspots der Sepsisforschung im Visier der Industrie
„Wir schätzen, dass sich mit einer konsequenten Umsetzung der Leitlinien die Sterblichkeit der schweren Sepsis um 10 bis 25% reduzieren lässt“, hat Prof. Dr. Frank Martin Brunkhorst, Intensivmediziner am Universitätsklinikum Jena schon nach seiner 2008 im NEJM publizierten ersten deutschen Studie VISEP (Volume substitution and Insulin therapy in severe SEPsis) des Kompetenznetzes Sepsis berichtet [1]. Die Jenaer Wissenschaftler hatten erstmals in einem direkten Vergleich gezeigt, welcher Volumenersatz sich günstiger auf die Organfunktionen bei septischen Patienten auswirkt.
Allerdings musste die Studie vorzeitig abgebrochen werden, da bei den mit HES der 2. Generation (mittlere Molekülmasse: 200; Substitutionsgrad: 0,5) behandelten Patienten deutlich häufiger renale Komplikationen auftraten, die die Inzidenz für ein Nierenversagen erhöhten und die Notwendigkeit einer Dialyse verdoppelte. Brunkhorst empfahl, den Flüssigkeitsverlust mit Ringer-Laktat auszugleichen. Jena als ein Hotspot der Sepsisforschung geriet laut SPIEGEL Online daraufhin ins Visier des deutschen HES-Herstellers und wurde „heftig angegangen“, desgleichen später auch der Leiter der skandinavischen 6S-Studie [11].
Sepsismanagement nach dem Greifswalder Modell
Die Sepsis ist weltweit eine der häufigsten letalen Erkrankungen, jedes Jahr sind schätzungsweise 20 bis 30 Millionen Patienten von multiplem Organversagen binnen weniger Stunden betroffen. Die rasante Zunahme der multiresistenten Erreger verschärft das Problem; alte Patienten, chronisch Kranke, schwer verletzte und Chirurgie-Patienten sind aufgrund ihrer geschwächten Immunabwehr besonders gefährdet.
In Deutschland ist Sepsis nach akutem Herzversagen und Krebserkrankungen die dritthäufigste Todesursache, auf den Intensivstationen mit etwa 50% sogar die häufigste. Nach Untersuchungen des Kompetenznetzwerkes Sepsis sterben täglich 162 Patienten an der aggressivsten Form einer Infektion. Allein die direkten Kosten für die intensivmedizinische Behandlung liegen bei ca. 1,8 Milliarden Euro jährlich.
Eine frühzeitige Diagnose und entsprechend eingeleitete therapeutische Maßnahmen – Antibiose als Monotherapie, Herdsanierung, Flüssigkeit – sind die entscheidenden Determinanten zur Reduktion der hohen Letalität, und das nicht nur in der Intensivmedizin, sondern auch im ambulanten und prästationären Sektor.
„Der Tod kommt im Zeitraffer, da zählt jede Stunde“, unterstreicht Gründling. Mit seinen Kollegen konnte er zeigen, dass einer guten Kenntnis der Behandlungsprinzipien eine adäquate praktische Umsetzung folgen kann: Im Greifswalder Klinikum ist die Sterblichkeit durch schwere Sepsis und septischen Schock in den letzten Jahren von 59% auf rund 35% zurückgegangen. Erreicht haben die Mediziner das durch intensive Weiterbildung der Mitarbeiter in Prävention (Hygiene!), Einführung von Früherkennungsmethoden (MRSA-Screening in Form des Nasenabstrichs bei Risikopatienten), zeitsensitiver Therapie (Antibiose innerhalb der ersten Stunde nach Diagnose) und konsequenter Ergebniskontrolle.
„Der Notfall Sepsis kommt nicht so trivial daher wie ein Herzinfarkt oder Schlaganfall“, so Gründling. „Es zeigt sich aber, dass durch eine insgesamt verbesserte Qualität Leben gerettet werden kann.“