Steigert das Makrolid Azithromycin das kardiovaskuläre Todesrisiko? Dies hat eine dänische Kohortenstudie an ambulanten Patienten untersucht. Ältere Studien hatten einen solchen Verdacht geweckt, obwohl Azithromycin lange Zeit als kardial sicheres orales Antibiotikum galt. Vermuteter Pathomechanismus, der immerhin schon zu einer Änderung der Warnhinweise geführt hat, war eine Verlängerung der QT-Zeit bei vielen Risikopatienten oder bei Menschen mit entsprechender genetischer Veranlagung.
Dr. Henrik Svanström und seine Kollegen haben nun diesen Zusammenhang an einem großen Parientenkollektiv in Dänemark genauer analysiert. Wie sie im New England Journal of Medicine berichten, konnte bei den ambulanten Patienten, die meist wegen chronischer Sinusitis und Bronchitis Antibiotika erhielten, kein Unterschied in der kardialen Sterblichkeit zwischen einer Behandlung mit dem in kardialer Hinsicht sicheren Penicillin V im Vergleich zu Azithromycin festgestellt werden [1].
Das ist auch für Prof. Dr. Thomas Eschenhagen, Abteilung für Experimentelle Pharmakologie und Toxikologie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) und Sprecher des Deutschen Herzforschungszentrums in Berlin, die beruhigende Nachricht dieser Studie, wie er im Gespräch mit Medscape Deutschland erläutert hat.
Vergleich mit gesunder Bevölkerung nur bedingt aussagekräftig
Im Vergleich mit Patienten ohne Antibiotikabehandlung ergab sich zwar ein statistisch signifikanter Unterschied in der kardialen Sterblichkeit, deren Ursachen blieben aber aufgrund der Studienmethodik unklar. Die Antibotikatherapie als solche könnte bei einer Kohortenstudie auch ein Hinweis für die insgesamt kränkere Patientengruppe gewesen sein, was die vermehrte Sterblichkeit erklärt, räumen die Forscher ein.
Auch gibt die Studie keine Auskunft über den Netto-Nutzen der Antibiotika, also über die Frage, was es für das Überleben der erkrankten Patienten bedeutet hätte, wenn sie keine Antibiotika erhalten hätten. Ausgewertet wurden in der dänischen Untersuchung mehr als 1 Million Behandlungen mit Azithromycin und mehr als 7 Millionen Behandlungen mit Penicillin V. Es wurden die Daten von Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren analysiert, bei denen mindestens eine 5-Tages-Behandlung mit Azithromyzin stattgefunden hatte.
17 kardiovaskuläre Todesfälle gab es in der Azithromyzin-Gruppe (1,1 auf 1.000 Personenjahre) und 146 während der Penicillin V-Therapie (1,5 auf 1.000 Personenjahre). Es zeigte sich im Vergleich Penicillin-Azithromycin statistisch kein Unterschied bei den kardiovaskulären Todesfällen (Rate Ratio: 0.93, 95% Konfidenzintervall: 0.56 bis 1,55). Der absolute Unterschied betrug damit 1 Todesfall auf 1 Million Behandlungen, erläutern die Forscher.
Studienanlass: Ein alter Verdacht
Anlass der Untersuchung war eine ältere Studie von Dr. Wayne Ray von der Vanderbilt University in Nashville aus dem Jahr 2004 [2]. US-Wissenschaftler hatten darin bei stationär behandelten U.S.-Medicaid-Patienten mit Herz-Kreislauf-Risiken eine Risikoerhöhung um das 2- bis 3fache unter einer Behandlung mit Azithromycin im Vergleich zu Amoxicillin gefunden. Für diese Patientengruppe war damit eine Risikoerhöhung durch Azithromycin belegt, räumen auch die dänischen Forscher ein. Ein ähnlicher Effekt in der kranken Allgemeinbevölkerung ließ sich nun aber nicht zeigen.
Wie unterschiedlich beide Populationen waren, wird am schnellsten an den absoluten Sterblichkeitsunterschieden in beiden Gruppen deutlich: 85,2 Todesfälle auf 1 Million Azithromycintherapien bei den Herz-Kreislaufkranken vs. 15,4 Todesfälle auf 1 Million Azithromycinbehandlungen bei Menschen mit anderen Erkrankungen. Damit sei der Schluss gerechtfertigt: „Ein erhöhtes Risiko unter Azithromycin ist weitestgehend auf Hoch-Risiko-Patienten beschränkt“, so Swanström und Mitarbeiter in der Publikation.
In einem Kommentar von Dr. Andrew D. Mosholder vom Center for Drug Evaluation and Research bei der Food and Drug Administration (FDA) in Silver Spring im US-Staat Massachusetts wird deutlich, dass das aufgegriffene Thema vor allem für die USA von großer Relevanz ist [3]. Allein in den Vereinigten Staaten erhalten etwa 40,3 Million Menschen jährlich eine ambulante Verschreibung von Antibiotika.
Bei den beiden häufigsten Indikationen chronische Sinusitis und Bronchitis waren es in den Jahren 2002 bis 2011 insgesamt 34 Millionen Verschreibungen (16,5% aller Antibiotika). Bei der Indikation Sinusitis ist Azithromycin in den USA derzeit das zweithäufigste (nach Amoxicillin) und bei Bronchitis das am häufigsten verschriebene Antibiotikum.
Azithromycin wird in Deutschland weniger verordnet
Dass Azithromycin in Deutschland nicht einen so hohen Stellenwert wie in den USA hat, erläuterte Prof. Dr. Thomas Eschenhagen im Gespräch mit Medscape Deutschland. Hierzulande hat Azithromycin mit 13,0 Mio. verordneten Tagesdosen in 2012 einen Anteil von knapp 30% an den Makroliden. Zum Vergleich: Clarithromycin (18,7 Mio.), Roxithromycin (12,9 Mio.), Erythromycin (5,8 Mio.) und Clindamycin (6,3 Mio.). Der Anteil des Azithromycin an allen verschriebenen Antibiotika in Deutschland beträgt 4%. Am meisten genutzt werden in Deutschland die Betalaktam-Antibiotika, gefolgt von Tetracyclinen.
Wie Eschenhagen weiter ausführt, sind Makrolide sehr wertvolle Therapeutika, die aber – wie viele andere Antibiotika und andere Medikamente – aufgrund der genetischen Disposition mancher Patienten, der Komedikation oder bestimmter Begleiterkrankungen das Risiko in sich bergen können, ein QT-Syndrom oder eine Torsade de pointes-Arrhythmie auszulösen.
Von daher habe die dänische Studie das bisherige Konzept bestätigt, wonach Azithromycin für den Fall zu den sicheren Substanzen gehört, wenn bei den Patienten keine zusätzlichen Probleme bestehen.
Die Pathophysiologie ist seit Jahren bekannt
Der Effekt der QT-Verlängerung ist durchaus nicht neu. Das bekannteste Medikament, das diese Reaktion auslöst, ist Chinidin. „In den 80er-Jahren haben wir gelegentlich einem Patienten mit Indikation für Chinidin abends eine sogenannte Test-Dosis gegeben. Dann wurde in der Klinik erst geschaut, ob der Patient umfällt oder nicht“, so Eschenhangen. Als Ursache der „Chinidin-Synkope“ wurde damals etwas Allergisches vermutet. Dabei handelte es sich vermutlich um Rhythmusstörungen auf der Basis der Verlängerung des QT-Intervalls, für deren angeborene Form Anfang der 90er-Jahre die genetischen Ursachen gefunden wurden, so Eschenhagen.
Gehemmt wird dabei stets die Funktion des Kaliumkanals. Dadurch wird das Aktionspotential am Herzen länger, die Repolarisation wird behindert. Das führt zu mehr Kalziumeinstrom, repetitiven Entladungen und schließlich den Torsade de pointes-Arrhythmien, die potentiell zum plötzlichen Herztod führen können.
Alle Medikamente, die die Expression des hERG (humanes Ether a-go-go-related)-Gens hemmen, kommen nach Angaben von Eschenhagen als Ursache für Torsade de pointes-Arrhythmien in Frage. Einige wurden in jüngerer Vergangenheit vom Markt genommen. Dazu gehörten: Astemizol, Terfenadin (beides Antiallergika), Cisaprid (Magen-Darm-Mittel), Clobutinol (Hustensaft), u. a. [4]. Alle Arzneimittel, die die Verstoffwechselung über das CYP3A4 hemmen, können die Situation verschlechtern.
„Mein Weltbild in Sachen Makrolide und QT-Verlängerung sah bisher so aus: Erythromycin und Clarithromycin sind für prädisponierte Patienten potentiell gefährlich, Azithromycin und Roxithromycin sind nicht kritisch. Für das Azithromycin wurde dies nun in der dänischen Studie bestätigt. Im Vergleich zum Penicillin bringt Azithromycin in kardial nicht belasteten Populationen kein erhöhtes Risiko mit sich. Das spricht dafür, dass die Gefahr generell nicht vom Azithromycin ausgeht, sondern eher von bestehenden kardialen Erkrankungen“, so Eschenhagen.
Typische Begleiterkrankungen, die das Risiko erhöhen
Zu den typischen Bedingungen, die das Risiko für Torsaden vergrößern, gehört die Hypokaliämie. Da die Funktion der Kaliumkanäle von der extrazellulären Konzentration des Kaliums abhängig ist, wird sie durch weniger Kalium eingeschränkt. Auch bei Bradykardien besteht mehr Zeit für das Herz, um mit Autonomien zu reagieren. QT-Zeitverlängerungen unter einer Medikation sind offenbar kein kumulatives Problem, so Eschenhagen. Entweder gibt es bei Therapiebeginn Probleme oder nicht.
Was tun in der Praxis? Wenn es irgendwie geht, sollten bei Risikopatienten Betalaktame genutzt werden. Azithromycin bleibt als Makrolid-Antibiotikum für Spezialindikationen wichtig und hat sich unter regulären Bedingungen als sicher bestätigt. Mosholder verweist in seinem Kommentar rückblickend darauf, dass die FDA bereits in den vergangenen Jahren aufgrund der Studienlage und Marktbeobachtungsdaten die Warnhinweise auf den Packungen ergänzt hat.
So sollen Patienten mit bekannten kardiovaskulären Risikofaktoren, solche mit QT-Verlängerungen in der Krankengeschichte, aber auch mit Erkrankungen wie Hypokaliämie, Hypomagnesiämie, Bradykardie oder solche, die Klasse 1A-Antiarrhythmika wie Chinidin und Procainamid nehmen, sowie Klasse 3-Antiarrhythmika wie Defetilid, Amiodaron und Sotalol erhalten, nicht mit Azithromycin behandelt werden [5]. Die genannten Antiarrhythmika verlängern bekannterweise auch das QT-Intervall.
Aus der Ray-Studie zieht Kommentator Mosholder den Schluss, dass das beobachtete Sterberisiko abhängig vom kardiovaskulären Risiko ist und klassischerweise am 1. bis 5. Behandlungstag am höchsten ist. „An Tag 6 bis 10 konnte ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko nicht mehr nachgewiesen werden.“
Die Svanström-Studie wird von ihm dahingehend gedeutet, dass die beobachteten kardiovaskulären Risiken unter der Antibiotikatherapie gegen den klinischen Nutzen einer solchen Behandlung gewichtet werden müssten. Makrolide könnten bei ambulanten Patienten mit Pneumonie im Hinblick auf die Überlebensrate wirksamer sein als andere Antibiotika wie etwa Fluorchinolone. Auch Erythromycin und Clarithromycin-Packungen sind in den USA mit Warnhinweisen bezüglich der QT-Zeit-Verlängerung versehen worden.
Fluorochinolon-Packungen enthalten ebenfalls solche Warnhinweise. Eine Substanz aus dieser Klasse (Grepafloxacin) wurde 1999 weltweit vom Markt genommen. Festzuhalten bleibe gemäß Ray-Studie: Bei kardiovaskulären Patienten ist das Risiko unter Azithromycin größer als unter Ciprofloxacin, das von Levofloxacin ähnlich dem des Azithromycin.