Dass Alkoholismus nicht nur die Leber, sondern auch Teile des Gehirns – insbesondere Nervenfasern der weißen Substanz – massiv schädigen kann, ist hinlänglich bekannt. Die Frage stellt sich, ob diese neuronalen Schädigungen zumindest teilweise reversibel sind. Ja, sagen US-Forscher aufgrund einer experimentellen Studie mit 60 Probanden. Regelmäßige sportliche Betätigung kann solche Beeinträchtigungen verhindern oder gar reparieren, lautet die Quintessenz ihrer Untersuchung, die kürzlich in der Online-Ausgabe der Fachzeitschrift Alcoholism: Clinical & Experimental Research erschienen ist [1].
„Die Ergebnisse liefern eine stabile Grundlage für weitere Untersuchungen, inwieweit Ausdauerbelastungen Hirnschädigungen durch starken Alkoholkonsum mildern oder umkehren können“, schreiben die Autoren um Hollis C. Karoly, University of Colorado, USA.
„Es ist wahrscheinlich, dass durch Sport neue Zellverbindungen im Gehirn entstehen oder auch Neurogenese stattfindet", glaubt auch der Diplom-Psychologe Ulrich Frischknecht vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. „Dies wurde bisher nur noch nicht bei Alkoholikern gezeigt. Die aktuelle Studie betritt hier neues Terrain“, kommentiert er die Ergebnisse im Gespräch mit Medscape Deutschland.
Sport lässt neue Nervenzellen sprießen
In Deutschland sind nach Angaben des Deutschen Roten Kreuzes etwa 2,5 Millionen Menschen alkoholabhängig; zudem konsumieren zahlreiche Jugendliche und junge Erwachsene regelmäßig große Alkoholmengen beim sogenannten Komasaufen (Binge-Drinking). Massiver Alkoholkonsum kann schon bei Jugendlichen zu neuronalen Ausfällen führen. Dahingegen kann sportliche Betätigung die Integrität der weißen Substanz verbessern und alters- und krankheitsbedingte Schädigungen mindern.
Um die Verbindung dieser beiden Erkenntnisse ging es in der aktuellen Studie. Genauer gesagt wurde die Auswirkung von Alkoholkonsum und sportlicher Betätigung auf die fraktionelle Anisotropie (FA) – einer Kenngröße der Diffusion-Tensor-Bildgebung (DTI) – im Fasciculus longitudinalis superior, in der Capsula externa, der Corona radiata und im Fornix untersucht.
Karoly und Kollegen haben DTI sowie Tests zum Alkoholkonsum bei 60 Probanden vorgenommen. Alle Teilnehmer füllten außerdem Fragebögen zu Ausdauersport sowie zur Kontrolle ihres Alkoholkonsums aus. Die Auswertung aller Messdaten ergab, dass Alkoholkonsum bei denjenigen Probanden, die weniger Sport trieben, mit einer niedrigeren FA verbunden war. Somit sollte sich Alkoholkonsum je nach der Regelmäßigkeit sportlicher Aktivität unterschiedlich auf die Integrität der weißen Substanz auswirken, vermuten die Forscher.
„Wie die Autoren bin auch ich vorsichtig bei der Annahme, dass Sport zu einer Regeneration von Hirnschädigungen führt“, kommentiert Frischknecht. „Die Ergebnisse könnten auch Sport als einen möglichen Risikofaktor erscheinen lassen. Denn zahlreiche Sportler beispielsweise rühmen sich damit, wie viel Alkohol sie vertragen ohne die Kontrolle zu verlieren. Wer viel verträgt, hat jedoch ein höheres Risiko, eine Abhängigkeit zu entwickeln.“ Dies ließe sich auch aus der Tatsache schließen, dass die Probanden, die am meisten Sport trieben, in der Studie auch den höchsten Alkoholkonsum aufwiesen.
„Die Ergebnisse sind dahingehend inspirierend, dass sie das Feld sportlicher Aktivität zurück in die Alkoholismus-Forschung bringen“, sagt Frischknecht weiter. „Sport wird als Therapie erfolgreich angewendet bei Depressionen und bei Rauchern und könnte sich somit auch für Alkoholiker, die entgiftet sind, als hilfreich entpuppen.“
Können Sportler ihren Alkoholkonsum besser kontrollieren?
Ein weiteres Studienergebnis: Teilnehmer, die angaben, weniger Sport zu treiben, wiesen eine höhere Korrelation zwischen Alkoholkonsum und Kontrollverlust über das Trinken auf als Sportler. „Eine mögliche Erklärung ist, dass Sport den Kontrollverlust über das Trinken mildern könnte“, schreiben die Autoren.
Hier seien jedoch Ursache und Wirkung nicht eindeutig, warnt Frischknecht. „Aus der Studie lasse sich keine Kausalität schließen. Es wäre durchaus plausibel, dass Personen, die viel Sport machen, bereits eine bessere Impulskontrolle – und das neurologische Korrelat – haben. So könnte es sein, dass Personen mit geringer Impulskontrolle lieber keinen anfänglich anstrengenden Sport machen“, sagt er.
Er schlägt hierzu eine experimentelle Studie vor, bei der an zwei Zeitpunkten neuropsychologische Testungen zum Kontrollerleben und zur Impulskontrolle durchgeführt werden und die Hälfte der Probanden zwischen den Messungen Sport treibt, während die andere Hälfte „Sofa-Tätigkeiten“ erledigt. „Sollte sich dann ein solcher Effekt zeigen, wäre das eine weitere Grundlage, um differenziertere Untersuchungen zur Wirkung sportlicher Betätigung in der Behandlung Alkoholkranker durchzuführen.“
Wie genau sich die Kausalitäten hinsichtlich Alkoholkonsum, Hirnschäden und Sport verhalten und ob sportliche Betätigung tatsächlich eine Wiederherstellung geschädigter Hirnbereiche schafft, müssen weiterführende Studien zeigen. „Man könnte bei einem Patientenkollektiv erst kürzlich entgifteter Alkoholiker den Effekt von vier- bis fünfmal Sport in der Woche auf die Regeneration von Hirnschäden untersuchen“, schlägt Frischknecht vor. „Wenn man das Datum des Rückfalls beziehungsweise die Dauer der Abstinenz hinzuzieht, werden die Ergebnisse noch spannender.“
Auch die US-Forscher schlagen eine solche Dosis-Wirkungs-Studie vor, in die allerdings nach ihrer Ansicht auch andere gesundheitsfördernde Aktivitäten wie Ernährung und Schlaf einbezogen werden sollten.