Neues vom Myelom-Weltkongress: Sowohl Diagnostik als auch Therapie entwickeln sich rasant

Dr. Erentraud Hömberg | 23. April 2013

Autoren und Interessenskonflikte

 

Prof. Dr. Hartmut Goldschmidt
 

Jährlich erkranken in den westlichen Industrienationen rund eine halbe Million vor allem ältere Menschen an einem Multiplen Myelom (Plasmazytom). Bis heute ist diese bösartige Erkrankung des Knochenmarks meist nicht heilbar. Doch in den letzten 10 Jahren wurden in der Behandlung von Myelomerkrankungen größere Fortschritte erzielt als jemals zuvor. Die mediane Überlebenszeit der Patienten hat sich durch den Einsatz der neuen Substanzen Thalidomid, Lenalidomid und Bortezomib verdoppelt.

Medscape Deutschland sprach mit Prof. Dr. Hartmut Goldschmidt, Leiter der Sektion Multiples Myelom der Medizinischen Klinik V, Universitätsklinikum Heidelberg und Nationales Centrum für Tumorerkrankungen (NCT), über neue kürzlich beim Weltkongress für Myelomforschung und -therapie in Kyoto, Japan, vorgestellte Diagnose- und Therapiemöglichkeiten.

Medscape Deutschland: Herr Professor Goldschmidt, Sie waren kürzlich auf dem Weltkongress in Kyoto. Welche neuen Erkenntnisse haben Sie mit nach Hause genommen?

Prof. Goldschmidt: Im Mittelpunkt standen vor allem neue Diagnostikverfahren. Es hat sich gezeigt, dass die molekulare Diagnostik Untergruppen von Multiplen Myelomen definieren kann, dass diese Untergruppen, auch Klone genannt, zu verschiedenen Zeiten der Myelomerkrankung in unterschiedlicher Dominanz auftreten können und dass dies sicherlich Konsequenzen für die Therapie hat.

Medscape Deutschland: Meinen Sie damit Konsequenzen hin zu einer personalisierten Therapie des Myeloms?

Prof. Goldschmidt: Wir werden uns in Zukunft nicht mehr mit einem einzelnen Myelom-Klon auseinandersetzen, sondern mit unterschiedlichen Klonen der Erkrankung, die jeweils auch unterschiedliche Resistenzen aufweisen. Die Vision dabei ist, dass wir aus der Biologie der Klone die Sensitivität des Patienten gegenüber bestimmten Medikamenten erkennen und ihn somit individuell behandeln können. Die Realität allerdings ist eine andere: Zurzeit können wir nur ca. 5% der Patienten mit einer weit fortgeschrittenen Myelomerkrankung, die spezifische Mutationen aufweisen, mit einer Auswahl gezielter Medikamente erfolgreich behandeln. 

Medscape Deutschland: Die neuen Substanzen bieten aber doch eine Fülle von Optionen?

Prof. Goldschmidt: Auch in Kyoto hat sich bestätigt, was bereits seit Jahren beim Myelom etabliert ist: dass die drei neuen Substanzen Thalidomid, Bortezomib und Lenalidomid einen festen Stellenwert in der Therapie haben und dass wir alte Medikamente wie Glukokortikoide und Zytostatika mit neuen Medikamenten verbinden. Hier gibt es eine Vielzahl von Kombinationsmöglichkeiten.

Medscape Deutschland: Die neuen Substanzen werden nun sowohl in der Erst- als auch in der Zweitlinientherapie angewendet. Sind sie in Deutschland alle von den Krankenkassen zugelassen?

Prof. Goldschmidt: In Deutschland ist das Thalidomid und das Bortezomib für älteren Patienten in der Primärtherapie zugelassen. Aufgrund der guten Studienergebnisse trägt der medizinische Dienst der Krankenkassen aber auch für jüngere Patienten die Kosten für eine primäre Bortezomib-Therapie – obwohl die EMA-Zulassung noch fehlt. Beim ersten Rezidiv haben wir die Möglichkeit, das Lenalidomid einzusetzen, welches sehr wirksam, aber auch sehr kostenintensiv ist.

Medscape Deutschland: Wie hoch sind die Kosten für die neuen Substanzen?

Prof. Goldschmidt: Man kann davon ausgehen, dass die monatlichen Kosten für diese Arzneimittel zwischen 4.000 und 7.000 Euro liegen.

Medscape Deutschland: Welche Nebenwirkungen treten mit diesen Medikamenten am häufigsten auf?

Prof. Goldschmidt: Eine sehr unschöne Nebenwirkung von Thalidomid und Bortezomib ist die Polyneuropathie. Beim Lenalidomid ist diese Nebenwirkung am geringsten. Bei Lenalidomid und Thalidomid können Thromboembolien im zweistelligen Prozentsatz auftreten, wenn keine Prophylaxe erfolgt. Mit Acetylsalicylsäure oder Heparin verringern wir diese Nebenwirkungen sehr stark. Unter Bortezomib stellt die Herpes-Zoster-Reaktivierung ein Problem dar. Aber wir haben gelernt, dass die Inzidenz durch die Gabe von Aciclovir oder anderen Virostatika entscheidend zurückgedrängt wird.

Medscape Deutschland: Wie lang lässt sich die Lebenszeit mit den neuen Medikamenten erhöhen?

Prof. Goldschmidt:In den letzten zehn Jahren hat sich für Myelompatienten eine Verdoppelung der Überlebensspanne ergeben. Das betrifft vor allem jüngere Patienten, bei denen die neuen Medikamente konsequent bei der Hochdosistherapie eingesetzt werden. In Kyoto konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass auch ältere Patienten zunehmend von Medikamentenkombinationen mit neuen Substanzen profitieren. Letztlich konnte damit die mediane Überlebenszeit von 3 bis 4 Jahren auf 6 bis 8 Jahre verlängert werden.

Medscape Deutschland: Im Frühstadium wird ein Myelom meist nicht bemerkt. Wie lange dauert es, bis sich Symptome zeigen?

Prof. Goldschmidt: Von den ersten Symptomen bis zur Diagnosestellung eines Multiplen Myeloms sind es im Schnitt 3 bis 4 Monate. Vom symptomatischen Multiplen Myelom abgegrenzt wird das „Smouldering Myeloma“, das noch unauffällig ist. Im Durchschnitt dauert es 4 Jahre, bis das Smouldering Myeloma in ein symptomatisches Multiples Myelom übergeht. Durch neue Prognosefaktoren wie Leichtkettentest, moderne Bildgebung wie MRT, Zytogenetik etc. versucht man die Zeit bis zum Übergang zu schärfen. Man kann dadurch eine Hochrisikogruppe definieren, bei denen das Myelom zu über 80% schon nach 2 Jahren symptomatisch wird.

Medscape Deutschland: Zur Zeit wird erst im fortgeschrittenem Stadium therapiert. Wird sich dies dann ändern?

Prof. Goldschmidt: Das ist eine Frage, die in Kyoto ausführlich diskutiert wurde. Mit den modernen Diagnosemethoden werden zunehmend Myelome bereits im Frühstadium entdeckt. Es gibt nebenwirkungsarme Therapien, die bei Patienten mit einem asymptomatischen Myelom geprüft werden. Meiner Meinung nach wird es in den nächsten Jahren dazu kommen, dass man bereits Hochrisiko-Smouldering Myeloma behandeln wird – vorerst  noch in Studien, aber durch die nebenwirkungsarmen Therapien werden sich neue Indikationen ergeben.

Medscape Deutschland: Bedeutet eine frühe Behandlung auch mehr Lebenszeit?

Prof. Goldschmidt: Es gibt erste Hinweise, dass mit einer frühen Behandlung auch mehr Lebenszeit erreicht werden kann. Das beruht bisher noch auf einer geringen Patientenzahl, aber es sind mehrere Studien aktiviert, die diese Thematik untersuchen. Wir werden bald mehr Daten dazu bekommen.

Medscape Deutschland: Welche Erkenntnisse gab es in Kyoto zur Hochdosistherapie und der autologen Stammzelltransplantation?

Prof. Goldschmidt: Kyoto hat gezeigt, dass insbesondere bei den europäischen Kollegen die Stammzelltransplantation sehr gut etabliert ist, dass man mit der Toxizität umgehen kann und dass man Langzeitergebnisse kennt. In Deutschland liegt die Letalität der Hochdosistherapie nur mehr bei ca. 1%. Auch hier sind mindestens 3 Studien rekrutierend, die für die Ära der neuen Substanzen die frühe gegen die späte Transplantation von hämatopoetischen Stammzellen prüfen. Nach 2 bis 3 Jahren werden wir erste Ergebnisse bekommen. Für mich ist die Hochdosistherapie gefolgt von der autologen Stammzelltransplantation für Patienten bis 70 Jahre das Mittel der Wahl.

Medscape Deutschland: Die „neuen“ Substanzen sind nun auch nicht mehr ganz neu. Wie sehen die Zukunftsperspektiven für die Therapie des multiplen Myeloms aus?

Prof. Goldschmidt: In Kyoto waren neben dem Thalidomid, dem Bortezomib und dem Lenalidomid auch das Pomalidomid und das Carfilzomib in vielen Studien präsent. Beide Medikamente sind sehr wirksam und weisen auch ein anderes – ich würde sagen, günstigeres – Nebenwirkungsprofil auf. Doch die Forscher setzen sich gegenwärtig auch mit ganz neuen Substanzgruppen auseinander. Eine Erweiterung der Therapie mit Antikörpern ist in der Prüfung und erste Ergebnisse einer Phase-III-Studie wurden bereits präsentiert. In der Diskussion zur Behandlung des Myeloms stehen auch die Deacetylasehemmer und die small molecules.

Ich erwarte, dass eine ganze Reihe dieser neuen Mittel in die Phase-3 kommen werden. Dann wird man sehen, ob sie sich bewähren und die Therapie erweitern. Sowohl die Diagnostik als auch die Therapie beim Myelom entwickeln sich rasant. Aber es gibt noch viel zu tun. Lebensverdoppelungszeit heißt nicht, dass wir die Krankheit heilen können. Und für die Patienten ist das Multiple Myelom immer noch ein großes Problem.

Medscape Deutschland: Besten Dank für das Gespräch!

Autoren und Interessenskonflikte

Dr. Erentraud Hömberg
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Prof. Dr. Hartmut Goldschmidt
Es liegen keine Erklärungen zu Interessenkonflikten vor.

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