Große Hoffnungen hat die SELECT-Studie geweckt: Gibt es bald einen neuen Therapieansatz, der bei Patienten mit schubförmiger Multipler Sklerose (MS) das Risiko für erneute Krankheitsschübe deutlich verringern kann? Doch es gibt auch Einiges, was die hohen Erwartungen trübt.
So warnt Prof. Dr. Peter Riekmann, Chefarzt der Neurologischen Klinik der Sozialstiftung Bamberg, Klinikum am Bruderwald, und Vorstandsmitglied des Ärztlichen Beirats der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) vor übertriebenen Hoffnungen. Im Gespräch mit Medscape Deutschland kommentiert er die Daten der SELECT-Studie mit kritischer Distanz: „Der neue Therapieansatz hat unter anderem wegen der ungeklärten Malignität des Daclizumab einen Dämpfer erhalten. Wie der Wirkstoff einzuordnen sein wird, ist noch nicht abzusehen – möglicherweise als Add-on-Strategie.“
81% der Patienten hatten keinen erneuten Schub
Anfang April 2013 sind vorab online in The Lancet die Ergebnisse der SELECT-Studie (Daclizumab high-yield process in relapsing-remitting multiple sclerosis) mit dem humanisierten monoklonalen Antikörper Daclizumab HYP (high-yield process) veröffentlicht worden [1]. Daclizumab HYP zeigt darin ein deutliches Potenzial, innerhalb eines Jahres (im Vergleich zu Placebo) „die Häufigkeit erneuter Erkrankungsepisoden bei Patienten mit einer schubförmig remittierenden Multiple Sklerose um 54%“ zu senken, wie Studienleiter Prof. Dr. Ralf Gold, Neurologische Klinik am St. Josef-Hospital, Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum, in einer Presseaussendung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) mitteilt [2].
Darüber hinaus blieben bis zu 81% der Patienten, die mit dem Antikörper behandelt wurden, im Beobachtungszeitraum rezidivfrei, während in der Placebo-Gruppe bei nur 64% der Patienten kein erneuter Schub beobachtet wurde. Gold geht nicht davon aus, dass Daclizumab nur in besonderen Konstellationen zum Einsatz kommen wird. „Von den Studienergebnissen her handelt es sich um keine Nischenmedikation. Es wurden keine Patienten ausgewählt, die sich in einem besonders aktiven oder inaktiven Erkrankungsstadium befinden, und es wurden Patienten mit und ohne Interferon-Medikation aufgenommen. Das deutet eher auf eine breite Anwendung hin“, erklärte der Neurologe im Gespräch mit Medscape Deutschland. Bei weiteren Untersuchungen werde es dennoch auch darum gehen müssen, „ob es uns gelingt, Patienten zu identifizieren, die besonders gut auf dieses Therapieprinzip anzusprechen.“
CD-25-Polymorphismus erhöht das MS-Risiko
Aus früheren Untersuchungen ist bekannt, dass ein Polymorphismus im CD25-Gen mit einem erhöhten Risiko für MS assoziiert ist. Daclizumab blockiert hochspezifisch die CD25-Untereinheit des Interleukin-2-Rezeptors. Der Rezeptor ist vorrangig auf den Oberflächen aktivierter und regulatorischer T-Zellen, auf aktivierten B-Zellen, myeoliden Vorläuferzellen sowie auf Thymuszellen zu finden.
Die therapeutische Wirkung des Dalcizumab liegt möglicherweise unter anderem darin, dass durch die Blockade des IL-2-Rezeptors ein Anstieg natürlicher Killerzellen (CD56bright) induziert wird, die ihrerseits das T-Zell-Wachstum deutlich drosseln. T-Zellen nehmen eine Schlüsselrolle bei der Zerstörung der Myelinscheiden und der Entstehung typischer MS-Entzündungsherde ein.
Die SELECT-Studie
SELECT war eine klinische Phase-2b-Studie, um Sicherheit und Effektivität der Therapie mit Daclizumab bei Patienten mit schubförmig-remittierender MS zu prüfen. Dazu wurden zwei Dosierungen des Antikörpers gegen Placebo in einem doppel-verblindeten, multizentrischen Studienaufbau getestet. Die Patienten erhielten über einen Zeitraum von 52 Wochen alle 4 Wochen eine subkutane Injektion. Insgesamt nahmen an der Studie 621 Patienten teil: 208 Patienten erhielten Daclizumab HYP in einer Dosierung von 150 mg, 209 erhielten 300 mg und die 204 Patienten der Kontrollgruppe erhielten eine Placebo-Injektion.
Die auf ein Jahr bezogene Reduktion der Rezidivraten war in beiden Verum-Gruppen signifikant ausgeprägter als in der Placebo-Gruppe: 54% in der 150-mg-Gruppe, 50% in der 300-mg-Gruppe. Auch blieben signifikant mehr Patienten im Verlauf des Beobachtungszeitraums rezidivfrei: 81% (p < 0,0001 vs. Placebo) der Patienten, die 150 mg Daclizumab HYP erhielten, hatten keinen neuen Schub und 80% (p = 0,0003 vs. Placebo) der Patienten, die 300 mg erhielten. In der Placebo-Gruppe blieben nur 64% schubfrei.
Zwei Melanom-Fälle bereiten Sorgen
In einem Kommentar zur SELECT-Studie, der ebenfalls vorab online in The Lancet publiziert wurde, gehen die beiden Autoren Dr. Shiv Saidha (Beaumont University Hospital, Dublin/Irland) und Prof. Dr. Peter A. Calabresi (Johns Hopkins University School of Medicine, Baltimore/USA) besonders auf die unerwünschten Arzneimittelwirkungen ein [3]. Mit einer gewissen Sorge nahmen die Autoren zwei Melanomfälle zur Kenntnis, die bei Patienten auftraten, die mit 300 mg Daclizumab HYP therapiert wurden.
Ein Effekt des Antikörpers führt dazu, das vermehrt IL-2 zirkuliert. Hochdosiertes IL-2 wiederum wird zur immuntherapeutischen Behandlung von Patienten mit metastasierendem Melanom eingesetzt. Ein Widerspruch, der eine genauere Analyse verlangt. Inwieweit die Immuno-Therapie in der SELECT-Studie das Melanomrisiko tatsächlich vergrößere, sei unbekannt, geben die Autoren zu bedenken.
Zufall oder Folge der Therapie?
Andererseits scheine der neue Daclizumab-vermittelte Wirkmechanismus dazu beizutragen, Teile der Immunaktivierung so zu unterdrücken, dass kaum gravierende Infektionen begünstigt werden. Immerhin seien, so schreiben Saidha und Calabresi, insgesamt in den Verumgruppen bei nur 2% der Patienten solche Infektionen beobachtet worden (0% in der Placebo-Gruppe). Solange jedoch die tatsächlichen immunologischen Abläufe nicht geklärt seien, bliebe der Weg der Immunsuppression „ein schmaler Grad zwischen gewünschter Wirkung und Induktion von Infektionen oder malignen Erkrankungen“.
Gold sieht ebenfalls „offene Fragen“. Dennoch warnt er vor übertriebenem Aktionismus hinsichtlich der beobachteten unerwünschten Wirkstoff-Effekte. Man müsse vorsichtig und gut überwacht die Therapie angehen, ohne zu früh ein Urteil zu fällen. Im Hinblick auf die Melanom-Warnsignale bevorzugt er ein pragmatisches Vorgehen.
„Ähnlich wie beim Immunsuppressivum Fingolimod müssen die Patienten engmaschig gescreent werden. Wir wissen im Moment noch nicht, ob die beobachteten Melanome eine Folge der Therapie sind“, argumentiert Gold. Patienten seien vor Studienbeginn nicht explizit auf eventuelle Hautpräkanzerosen gescreent worden. Deshalb sei zum jetzigen Zeitpunkt kaum festzustellen, inwieweit die Erkrankungen Zufall sind oder nicht.
SELECTION: Bestätigung und Zweifel
Allerdings wurden auch in der Erweiterungsstudie SELECTION, deren Ergebnisse erstmals auf dem 28. Kongress des European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS) im vergangenen Oktober in Lyon/Frankreich vorgestellt wurden, von ernst zu nehmenden Nebenwirkungen, einmal sogar mit Todesfolge, berichtet [4]. „Diese Vorfälle machen eine intensives Monitoring der behandelten Patienten nötig“, folgerte Studienleiter Prof. Gavin Giovannoni, Centre for Neuroscience and Trauma, Blizard Institute, Barts and The London School of Medicine, Großbritannien.
SELECTION ist eine einjährige Nachverfolgestudie zu SELECT. Patienten aus der Placebo-Gruppe wurden randomisiert auf die beiden getesteten Dosierungen verteilt. Patienten aus den Verumgruppen wurden randomisiert entweder einer 24-wöchigen Auswaschungsphase mit nachfolgender erneuter Daclizumab-Therapie zugeführt oder sie erhielten weiterhin die Studienmedikation.
Die ersten Ergebnisse aus SELECTION belegen einen ähnlichen Benefit für die MS-Patienten nach 2 Jahren Therapie wie in SELECT. Bei den Patienten, die für 24 Wochen nach vorangegangener Therapie kein Daclizumab erhielten, wurden keine erneuten Krankheitsschübe beobachtet.