„Annähernd 3.100 Menschen jährlich sterben vorzeitig durch Feinstaub und giftige Abgase aus deutschen Kohlekraftwerken“. Mit dieser Schlussfolgerung aus einer selbst beauftragten Studie erneuert die Organisation Greenpeace ihre Forderung, die Verstromung von Kohle bis zum Jahr 2040 zu beenden und die Nutzung von Braunkohle bis spätestens 2030 auslaufen zu lassen [1]. Der Studienleiter kann sich dieser Schlussfolgerung allerdings nicht anschließen.
Der Schlussfolgerung von Greenpeace widersprachen unmittelbar Betroffene, etwa der Energiekonzern und Kraftwerksbetreiber Vattenfall, der die Studie als „grob irreführend“ bezeichnete, sowie der Interessenverband VGB Power Tech, der darauf hinwies, dass das Gesundheitsrisiko durch Feinstaub vornehmlich durch Abgase aus dem Verkehr und die Heizungen von Wohnhäusern verursacht würde. Gegenüber Medscape Deutschland stellte zudem der Studienleiter Prof. Dr.-Ing habil. Rainer Friedrich klar, dass er die politischen Forderungen seines Auftraggebers nicht teilt.
Erstellt wurde die 23-seitige Studie am Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung (IER), Abteilung Technikfolgenabschätzung und Umwelt der Universität Stuttgart. Gleich zu Beginn des Dokuments betonen Friedrich und seine Kollegen, dass ihre Schätzung auf Daten zur Emission von Luftschadstoffen durch Kohlekraftwerke beruhen, die von Greenpeace bereitgestellt wurden. Berücksichtigt wurden die als besonders gesundheitsgefährdend geltenden Feinstaub-Partikel mit weniger als 10 bzw. 2,5 Mikrometern Durchmesser (PM 10 und PM 2,5), Schwefeldioxid, Stickoxide und Flüchtige Organische Verbindungen ohne Methan (NMVOC).
Die Methode zur Risikoabschätzung, die so genannte Impact Pathway Approach, war aus Mitteln der EU vom IER zusammen mit anderen europäischen Partnern entwickelt worden und wird laut dem Papier von der Europäischen Kommission häufig für Abschätzungen im Rahmen der Umweltgesetzgebung benutzt. Kalkuliert wurde sowohl der Verlust an Lebensjahren („Years of Live Lost“, YOLL) als auch der Verlust an Arbeitstagen durch die jährlichen Emissionen der 67 größten deutschen Kohlekraftwerke sowie 15 weiterer Standorte, wo solche Anlagen in Bälde ans Netz gehen sollen.
Feinstaub und Gesundheitsrisiken – eine umstrittene Beziehung
Ein kritischer Punkt in den Berechnungen ist die Beziehung zwischen der (erhöhten) Konzentration von Feinstäuben und den daraus resultierenden Gesundheitsrisiken, insbesondere einer höheren Mortalität (Concentration-response function, CRF). Sie ist unter Experten umstritten, weil es dazu nur wenige epidemiologische Studien gibt und fast keine zur Langzeitexposition. Die Forscher des IER diskutieren diese Limitation und verweisen auf eine US-Studie aus dem Jahr 2002, die eine Zunahme der Gesamtsterblichkeit von jeweils 4% für jede Erhöhung des Feinstaubgehaltes in der Luft um 10 Mikrogramm/Kubikmeter gefunden hatte [2]. Daraus abgeleitet wird unter Berufung auf Torfs et al. für PM 2,5 eine YOLL von 691 pro 10 µg/m3 und 100.000 Personen [3].
Basierend auf diesen Annahmen machen Friedrich und Kollegen eine Beispielrechnung für ein in Datteln geplantes Steinkohlekraftwerk von 1.050 Megawatt Leistung auf. Es wäre nach Inbetriebnahme mit seinen Emissionen jährlich für den Verlust von annähernd 900 Lebensjahren und mehr als 19.000 Arbeitstagen verantwortlich. Wegen der hohen Schornsteine und verschiedener chemischer Reaktionen in der Atmosphäre liege das größte Risiko nicht bei den Anwohnern in unmittelbarer Nähe des Kraftwerks, sondern es entfalle auf Menschen, die etwa 100 bis 200 Kilometer davon entfernt leben. Jeder Einzelne müsse dort damit rechnen, im statistischen Mittel mit jedem Expositionsjahr 10,5 Minuten seines Lebens zu verlieren.
In der Summe beläuft sich die Belastung durch die erfassten 67 aktiven deutschen Kohlekraftwerke auf 33.473 YOLL und 707.803 verlorene Arbeitstage, durch die 15 geplanten Anlagen kämen nochmals 11.860 YOLL und 251.031 verlorene Arbeitstage hinzu.
„Kohlekraftwerke tragen in Deutschland etwa 45% zur Stromproduktion bei, sie haben aber auch beträchtliche Auswirkungen auf die Gesundheit“, schreiben die Stuttgarter Forscher, und weiter: „Diese Gesundheitsrisiken sollten bei Entscheidungen über die Stromversorgung berücksichtigt werden. Solche Entscheidungen sollten die Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit ebenso berücksichtigen wie andere Kriterien wie die Emission von Treibhausgasen, Kosten und Verfügbarkeit von Ressourcen, Versorgungssicherheit, die technologische Entwicklung sowie die gegenwärtigen und zukünftigen Preise der Stromerzeugung.“
„Tod aus dem Schlot“
Wesentlich dramatischer präsentiert Greenpeace die Ergebnisse der Studie. Die im Internet als „Kohlegesundheitsreport“ abrufbare Datei trägt den Titel: „Tod aus dem Schlot“, Unterzeile: „Wie Kohlekraftwerke unsere Gesundheit ruinieren“. Aus dem von Friedrich und Kollegen berechneten Verlust von rund 33.000 Lebensjahren leitet Greenpeace ab, „dass die Emissionen deutscher Kohlekraftwerke jedes Jahr zum vorzeitigen Tod von ungefähr 3.100 Menschen führen“ – eine Zahl, die in der Originalstudie nicht enthalten ist.
„Die Verkürzung der Lebenserwartung durch Kohlekraftwerke ist ganz und gar vermeidbar, da wir mit Erneuerbaren Energien und den aktuellsten Lösungen zur Energieeffizienz in der Lage wären, die Lichter ohne ein einziges neues Kohlekraftwerk weiter brennen zu lassen“, behauptet Greenpeace und vergleicht die Emissionen der Kohlekraftwerke mit Erdgaskraftwerken und Windkraftanlagen – nicht aber mit Atomkraftwerken.
Der 28-seitige Report gipfelt in 6 politischen Forderungen, darunter auch der Beschluss eines Kohleausstiegsgesetzes, das die Beendigung der Kohleverstromung bis 2030 (Braunkohle) bzw. 2040 (Steinkohle) regelt. „Um Todes- und Krankheitsfälle zu vermeiden, muss die Politik endlich den Ausstieg aus der Kohle beschließen", fordert Gerald Neubauer, Energieexperte bei Greenpeace.
Mehr Feinstaub durch Autos und Heizungen als durch Kohle
Der Studienleiter Friedrich betont gegenüber Medscape Deutschland, dass seine Berechnungen unabhängig vom Auftraggeber nach dem neuesten Stand des Wissens und der Technik vorgenommen wurden, die für solche Studien gelten. „Die Schlussfolgerungen, die Greenpeace daraus ableitet, haben mit unserer Studie (jedoch) nichts mehr zu tun. Ich schließe mich der Forderung nicht an, die Nutzung von Kohle zur Stromgewinnung zu beenden.“
Bei den berechneten Risiken bewege man sich in einem sehr kleinen Bereich. Gesundheitsschäden durch Feinstaub seien zwar nachgewiesen, ein vergleichbar kleines Risiko in anderen Bereichen würden die Menschen jedoch akzeptieren, wenn sie hiervon einen Vorteil hätten, wie etwa beim Autofahren. Insgesamt gehen nach Friedrichs Schätzung etwa 10% aller Emissionen in Deutschland auf das Konto von Kohlekraftwerken. Sowohl der Verkehr als auch die Heizungen privater Haushalte tragen jeweils mehr zu den Emissionen bei als Kohlekraftwerke, so Friedrich, und – wenn man die sekundären Emissionen betrachtet – auch die Landwirtschaft.
„Natürlich müssen die Risiken (der Kohleverstromung) auch bei politischen Entscheidungen berücksichtigt werden. Aber die Nachteile, die die Braunkohle zweifellos hat, müssen abgewogen werden gegen deren Vorteile, wie ein niedriger Strompreis und hohe Versorgungssicherheit. Wenn man sagt, dass man überhaupt kein Risiko haben will, dann müsste man alle anderen Techniken auch abschalten“, so Friedrich.