Trotz ihrer Beliebtheit sind Neuroleptika bei Demenz nicht unverzichtbar, und es lohnt sich, immer wieder Absetzversuche zu unternehmen. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Analyse von Dr. Tom Declercq vom Department of General Practice and Primary Health Care an der Universität Gent in Belgien. Seine Arbeit legt nahe, die umstrittenen Medikamente nur in ausgewählten Fällen einzusetzen und regelmäßige Absetzversuche in der täglichen Praxis zu etablierten.

Dem stimmt auch Prof. Dr. Johannes Pantel, der Leiter des Arbeitsbereichs Altersmedizin am Institut für Allgemeinmedizin der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt zu: „Die therapeutischen Effekte einer Neuroleptika-Gabe werden tendenziell überschätzt und die schädlichen Effekte unterschätzt“, so Pantel im Gespräch mit Medscape Deutschland. Speziell die Langzeitbehandlung sei problematisch. „Das wird in der Praxis leider noch zu wenig wahrgenommen“, sagt Pantel.
Für die angesehene Cochrane-Collaboration suchten Declercq und Kollegen in medizinischen Datenbanken nach randomisierten plazebokontrollierten Studien, die bis zum 23. November 2012 erschienen waren. Sie wählten 9 Studien mit 606 Probanden aus, die 65 Jahre oder älter waren. In den Studien wurde sowohl der abrupte Abbruch der medikamentösen Therapie als auch die allmähliche Entwöhnung untersucht.
Absetzen sollte und darf versucht werden
8 der 9 Studien, so die Autoren, zeigten generell keine signifikante Differenz zwischen den untersuchten Gruppen. Lediglich eine von ihnen – eine Pilotstudie an Patienten mit psychotischen Symptomen und Agitation, die gut auf Haloperidol angesprochen hatten – zeigte eine signifikant verkürzte Rückfallrate in der Gruppe mit Therapieabbruch (Chi2=4.1; p=0,04). Die 9. Studie untersuchte psychotische oder agitierte Patienten, die in einem Zeitraum von 4 bis 8 Monaten gut auf Risperidon angesprochen hatten. Dabei ließ sich ein erhöhtes Rückfall-Risiko nach Aussetzen des Medikaments nachweisen: Nach dem Neuropsychiatric Inventory (NPI) Score war es um 30% erhöht (p=0,004; HR:1,94; 95% KI:1,09–3,45 nach 4 Monaten).
„Die Resultate unseres Review zeigen, dass gezielte Absetzprogramme in die Praxis übernommen werden sollten“, schreiben die Autoren. Allerdings sei bei Patienten, deren Agitiertheit gut auf Neuroleptika angesprochen habe, oder solchen, die schwere neuropsychiatrische Störungen aufwiesen, Vorsicht geboten: „Speziell für diese Patienten ist eine Entwöhnung nicht zu empfehlen!“
Pantel zeigte sich von den Ergebnissen der Meta-Analyse nicht überrascht: „Die Studie bestätigt inhaltlich, was sich in den Behandlungsleitlinien zu Demenz widerspiegelt“, erläutert der Experte für geriatrische Pharmakotherapie. Bei demenzkranken Patienten, die agitiert sind oder sich aggressiv verhalten, kommen pharmakologische Maßnahmen nur dann in Betracht, wenn es keine nicht-medikamentösen Möglichkeiten gibt, das Verhalten des Patienten positiv zu beeinflussen. „Dann muss man Nutzen und Risiken abwägen. Ist ein Patient hochgradig agitiert, besteht ja auch Verletzungsgefahr“, erklärt Pantel.
Sorgfältige Abwägung mit Zieldefinition ist notwendig
Unruhe, Aggressivität, Angst und Halluzinationen bei dementen Patienten werden oft mit Neuroleptika behandelt. Doch die Nebenwirkungen können gravierend sein. Die auch als Antipsychotika bezeichnete Substanzgruppe wirkt eben nicht selektiv nur antipsychotisch. Die Sedierung führt zu einer Aktivitäts- und Mobilitätsreduktion, das kann mitunter Thrombosen, hypostatische Pneumonie, Hypotonie mit Kollapsneigung, Hirninfarkte, Kraftverlust und Stürze nach sich ziehen. Diskutiert wird auch, inwieweit Neuroleptika die Thrombozytenfunktion, das cholinerge System und die Atemmuskulatur beeinträchtigen können.
Entscheide man sich in der Akutsituation für die Gabe von Neuroleptika, müsse ein Zielsymptom definiert und dokumentiert werden. „Einfach nur ein Medikament verschreiben, das ist nicht lege artis“, stellt Pantel klar. Nach 3 bis 4 Wochen müsse man dann sehen, ob das Medikament gewirkt und geholfen habe, vielleicht müsse die Dosis variiert werden. „Wurde die Zielsymptomatik nicht positiv beeinflusst, sollte man das Mittel absetzen. Aber auch, wenn die Zielsymptomatik erreicht wurde, sollte man versuchen, die Dosis zu verringern bzw. das Medikament auszuschleichen.“
Einen langfristigen Einsatz von Neuroleptika befürwortet Pantel nur bei Patienten mit chronischen Psychosen: „Da kann eine langfristige Therapie indiziert sein.“ Pantel wünscht sich mehr Aufmerksamkeit und Sorgfalt im Umgang mit Neuroleptika: „Das Wissen um die Risiken der Langzeitanwendung bei demenzkranken Patienten ist noch nicht bei allen angekommen.“
„Dass Neuroleptika egal welcher Coleur gravierende Auswirkungen wie Schlaganfall, erhöhte Mortalität u.a. bei Patienten mit Alzheimer-Demenz haben können, ist schon länger bekannt“, mahnt auch Prof. Dr. Richard Dodel, Ko-Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Marburg im Gespräch mit Medscape Deutschland. Seiner Einschätzung nach ist man mit der Gabe der Mittel schon zurückhaltender geworden, wobei insbesondere eine vor 3 Jahren publizierte Studie gezeigt habe, dass der Neuroleptika-Einsatz in Pflegeheimen noch weiterhin sehr hoch sei [2].
Untersucht wurde damals die Vergabepraktik in 18 Berliner Pflegeheimen. Die Autoren hielten ihre Ergebnisse seinerzeit für bedenkenswert und bilanzierten: Die Behandlung neuropsychiatrischer Symptome bei Demenz erfolgte in der vorliegenden Untersuchung offenbar wenig syndromspezifisch.
Auch Pantel sieht die Gefahr, dass die langfristige Gabe der Medikamente nicht nur medizinische Gründe haben könnte, sondern mitunter auch strukturell bedingt ist. „Fragt man etwa Ärzte, die in Pflegeheimen praktizieren, dann wird die Verschreibung von sedierenden Medikamenten häufig vom Pflegepersonal gewünscht. Das hat mit der Versorgungssituation zu tun, mit dem Personalmangel.“
Rückfallrate nach Absetzen geringer als befürchtet
Dodel rät, nach Beherrschung der Zielsymptomatik die Medikamente entsprechend der Symptomatik zeitnah zu reduzieren oder abzusetzen und die Notwendigkeit einer Medikation mindestens alle 3 Monate zu überprüfen und dann das Mittel nach Möglichkeit auszuschleichen und schließlich abzusetzen.
Das Ziel Symptomfreiheit nach kurzfristiger Neuroleptika-Gabe wird oft erreicht: „Die Rückfallrate liegt nach der neuesten Cochrane-Übersicht niedriger als man befürchten würde.“ Das Absetzen des Mittels ist das Ziel, schließlich handle es sich in der Regel um multimorbide Patienten, die ohnehin mehrere Medikamente einnehmen müssen.
Dennoch misslingen Absetzversuche auch. „Wichtig ist, nicht einfach das Mittel abzusetzen, sondern die Patienten und die Angehörigen vor der Änderung aufzuklären, dass die Symptome wieder auftreten können. In Absprache mit den Patienten und ihren Angehörigen“, so Dodel, „kann dann ein neuer Absetzversuch nach einem gewissen Zeitraum erfolgen“.