München - Die Vorstellung, von einer HIV-infizierten Krankenschwester gepflegt oder von einem HIV-infizierten Chirurgen operiert zu werden, löst immer noch Angst und Unbehagen aus. „In den Köpfen der Menschen ist noch das alte AIDS vorhanden“, hieß es bei der diesjährigen 5. AIDS und Hepatitis Werkstatt in München.

Nach groben Schätzungen sind in Deutschland rund 5000 Mitarbeiter im Gesundheitswesen HIV-positiv. „Die Angst vor der Infektion sitzt tief; doch wir müssen das alte Bild des ‚gefährlichen HIV‘ vergessen“, bestätigt Dr. Jens Jarke, HIV-Experte aus Hamburg, der in München einen Workshop zur arbeitsmedizinischen und betriebsärztlichen Praxis im Umgang mit diesen Mitarbeitern leitete.
Medscape Deutschland: Die Deutsche Vereinigung zur Bekämpfung der Viruskrankheiten (DVV) und die Gesellschaft für Virologie (GfV) haben im Jahr 2012 „Empfehlungen zur Prävention der nosokomialen Übertragung von HIV durch HIV-positive Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitswesen“ im Bundesgesundheitsblatt veröffentlicht. Was sind die wichtigsten Punkte dieser Empfehlungen?
Dr. Jens Jarke: Die aktuellen Empfehlungen sind eindeutig: Wer nicht operativ, invasiv an Patienten tätig ist – unabhängig ob seine HIV-Infektion behandelt oder nicht behandelt ist, und unabhängig, welche Viruslast er hat – bei dem besteht keine Übertragungsgefahr. Das gilt für alle Gesundheitsberufe.
Einschränkungen gibt es nur bei Tätigkeiten, die auch ein hohes Eigenverletzungsrisiko bergen, wie manche Operationen. Und dann auch nur, wenn beim Infizierten die Viruslast über 50 Kopien/ml liegt.
Also eigentlich kann man sagen: Alle – auch Operateure – können unproblematisch am Patienten tätig sein, wenn die Viruslast unter 50 Kopien/ml liegt. Und das ist, was ich von Kollegen aus HIV-Ambulanzen und Kliniken höre, bei über 80 oder sogar 90% der Betroffenen der Fall.
Medscape Deutschland: Doch sind HIV-Infizierte in Gesundheitsberufen nach wie vor mit Diskriminierung konfrontiert?
Dr. Jens Jarke: Die Angst vor einer Ansteckung durch einen infizierten Arzt oder eine Pflegerin sitzt tief. Bei einem infizierten Chirurgen ist dies besonders offensichtlich, denn der arbeitet ja sogar an der offenen Wunde. Immer noch stellen Arbeitgeber jemanden mit HIV-Infektion nicht ein. Das gilt für Altenpfleger, Krankenschwestern bis hin zum Arzt.
Medscape Deutschland: Und dies, obwohl es längst wissenschaftlicher Konsens ist, dass Menschen mit einer HIV-Infektion im beruflichen Alltag kein Infektionsrisiko darstellen ...
Dr. Jens Jarke: Ja. Die Wissenschaft sagt: Eine HIV-Infektion spielt bei Tätigkeiten im Gesundheitsbereich – bis auf ein paar kleine Einschränkungen – keine Rolle. Dies bedeutet auch, dass in diesen Fällen bei der Eingangsuntersuchung kein HIV-Test verlangt werden darf.
Wird er trotzdem gemacht und ist dann positiv, darf dies der durchführende Arzt dem Arbeitgeber gegenüber nicht offenbaren. Seine Aufgabe ist es nur, den Bewerber als „geeignet“ oder „nicht geeignet“ einzustufen. Und er müsste ihn als „geeignet“ einstufen. Mehr darf er dem Arbeitgeber nicht mitteilen, das ist gesetzlich so geregelt. Selbst wenn der Bewerber ihn von der Schweigepflicht entbinden ließe, würde dies die gesetzliche Regelung nicht außer Kraft setzen. Diese Regelung gilt auch für die HIV-Infektion.
Medscape Deutschland: Aber die Praxis sieht oft anders aus?
Dr. Jens Jarke: Ja. Ich hatte neulich einen Kollegen, einen Oberarzt und Neurochirurgen, der sich auf eine Stelle beworben hatte. Er hat bei der Eingangsuntersuchung seine HIV-Infektion offenbart. Das hätte er nicht gemusst. Der untersuchende Arzt gab daraufhin an den Arbeitgeber die Rückmeldung: „eingeschränkt geeignet, unter bestimmten Auflagen“ und hat dann auf den Katalog der im Bundesgesundheitsblatt veröffentlichten Empfehlungen verwiesen. Das war nicht zulässig. Denn diese Informationen unterliegen der Schweigepflicht.
Medscape Deutschland: Mit den „Einschränkungen“ ist gemeint, dass nach diesen Empfehlungen „Tätigkeiten mit erhöhter Übertragungsgefahr“, vor allem Eingriffe mit hohem Eigenverletzungsrisiko des Operateurs, nicht von Infizierten vorgenommen werden sollten, deren Viruslast länger als 14 Tage über 50 Kopien/ml liegt. Bei einer kurzfristigen Erhöhung auf 50-500 Kopien/ml sind diese Tätigkeiten nicht eingeschränkt, doch soll eine Nachkontrolle innerhalb der nächsten 14 Tage erfolgen.
Und es heißt in den DVV/GfV-Empfehlungen auch, dass „für den Fall einer Verletzung des HIV-positiven Angestellten im Gesundheitswesen mit Exposition des Patienten bzw. einer anderen Person „aus rechtlichen und ethischen Gründen“ die Betroffenen in jedem Fall zu informieren sind und ihnen unverzüglich eine HIV-Postexpositionsprophylaxe (PEP) anzubieten ist.
Wie aber soll die Umsetzung dieser Empfehlungen gewährleistet werden, wenn der Arbeitgeber nicht informiert wird?
Dr. Jens Jarke: Diese Empfehlungen umzusetzen, dafür ist primär und immer der Betroffene selbst verantwortlich. Von dem in Gesundheitswesen beschäftigten HIV-Infizierten wird – wenn er im operativen Bereich tätig ist – eine Risikokompetenz erwartet. Dies dergestalt, dass er regelmäßig die Viruslast kontrolliert und dass er bei einem Anstieg dies innerhalb von 14 Tagen nachkontrollieren lässt. Und, dass er in verletzungsträchtigen Situationen doppelte Handschuhe trägt.
Dadurch besteht allerdings auch schon wieder eine Diskriminierungsgefahr. Doch es gibt die Tendenz, im Op-Bereich generell doppelte Handschuhe zu tragen. Das würde ich auch Betriebsärzten empfehlen, so dass HIV- oder Hepatitis-Infizierte nicht durch die doppelten Handschuhe stigmatisiert werden.
Medscape Deutschland: In den Empfehlungen wird für die Umsetzung eine enge Kooperation des Infizierten mit dem Betriebsarzt empfohlen. Dafür muss er sich diesem offenbaren.
Dr. Jens Jarke: Ja, das bedeutet aber auch eine neue Rolle für den Betriebsarzt. Dieser muss dann entscheiden, ob er diese annehmen will. Er ist ja als Arbeitsmediziner normalerweise für den Schutz der Beschäftigten zuständig. Die DVV/GfV-Empfehlungen weisen ihm aber eine ganz neue Rolle zu – er ist dann plötzlich auch für den Patientenschutz zuständig.
Wichtig ist aber: Alles was den Umgang mit der HIV-Infektion, die Umsetzung dieser Empfehlungen usw. angeht, geschieht innerhalb des auf der Schweigepflicht basierenden Verhältnisses. In diesem Binnenverhältnis können dann Betriebsarzt und der HIV-infizierte Mitarbeiter entsprechende Regeln aushandeln, wie sie die Vorgaben der Empfehlungen umsetzen wollen. Es bleibt aber zwischen diesen beiden. Zum Arbeitgeber darf überhaupt nichts gelangen. Und: Der Betriebsarzt ist nicht Kontrolleur der vereinbarten Maßnahmen.
Medscape Deutschland: Sie kritisieren die Empfehlungen ...
Dr. Jens Jarke: Ja, sie sind in den Umsetzungshinweisen schwammig und zum Teil inkonsequent. Konflikte bezüglich des Persönlichkeitsschutzes des HIV-positiven Mitarbeiters sowie haftungsrechtliche Probleme scheinen vorprogrammiert.
Inkonsequent ist z.B. dass, wenn ein HIV-infizierter Operateur sich verletzt, er immer den Patienten informieren soll, auch wenn seine Viruslast unter 50 Kopien/ml liegt. Dies, obwohl es zuvor in den Empfehlungen heißt – und wissenschaftlicher Konsens ist, - dass bei einer Viruslast unter 50 gar kein Risiko besteht.
Auch lassen die Empfehlungen offen, wer im Einzelnen verantwortlich ist, etwa für den mit Einverständnis des betroffenen infizierten Mitarbeiters aufzustellenden Notfall- und Hygieneplan. Und wer soll die geforderte „umfassende Information und Beratung der exponierten Person durch einen in der HIV-Therapie erfahrenen Arzt unter Berücksichtigung der besonderen psychischen Krisensituation“ übernehmen? Es bleibt offen, ob das auch der Betriebsarzt sein soll – der muss in solchen Situationen ja nicht erfahren sein ... da sind eher HIV-Spezialisten gefragt. Doch es wird nicht genauer definiert, wer dies in einer solchen Situation machen soll.
Wenn ein Betroffener seine Infektion nicht offenbart, muss er ja trotzdem sicherstellen, dass in seinem Haus die entsprechenden Medikamente zur Postexpositionsprophylaxe vorgehalten werden oder diese innerhalb von 2 Stunden zugänglich sind und dass es einen Arzt gibt, der – auch nachts und am Wochenende – eine solche Beratung machen könnte. Das ist nicht in jedem Kreiskrankenhaus gewährleistet.
Medscape Deutschland: Und wie soll das geschehen?
Dr. Jens Jarke: Ich würde Betriebsärzten empfehlen, den Zugang zu den entsprechenden Medikamenten und zu im Umgang mit HIV erfahrenen Kollegen zumindest über das nächstgrößere Referenzkrankenhaus zu organisieren, wo all dies rasch erreichbar ist. Als Betriebsarzt kann man sich – zum Mitarbeiterschutz - unverfänglich darum kümmern – unabhängig, ob man von der HIV-Infektion eines Mitarbeiters weiß oder nicht.
Die „neue Rolle“ des Betriebsarztes bezüglich HIV-positiver Mitarbeiter im Gesundheitswesen |
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Tabelle nach Jarke