„Pille“ hatte es gut und seine Patienten auch. Dr. Leonard McCoy, Bordarzt in der Fernsehserie „Raumschiff Enterprise“, hielt kranken Crewmitgliedern routinemäßig seinen „medical Tricorder“ über den Bauch. Und „Bones“, wie der Weltraum-Doktor US-Original hieß, erkannte sogleich Blutdruck, Temperatur oder Blutgruppe von Mister Spock oder Leutnant Uhura.
„Eigentlich machen wir heute nur etwas von dem, was Pille schon in den 70´er Jahren vorgemacht hat“, sagt Medizininformatiker Dr. Michael Hägele. Wie eine Flut kommen seit 2007 die „Apps“ über Ärzte und Pflegende - die Applikationen für Smartphones und Tablett-PC.
Schon heute gibt es viele elektronische Multitalente, die Laien und Profis auf der Suche nach Informationen, bei der Entscheidungsfindung und zum Teil bei der Diagnosestellung mobil assistieren, sagt Hägele. Aber die Sache hat einen Haken: Qualität, Sicherheit und Seriosität der Anwendungen liegen im Dunkeln.
Ärzte schätzen Apps
Seit die Firma „Apple“ im Juni 2007 ihr „iPhone“ auf den Markt gebracht hat, schwillt die Welle auch der medizinischen der Apps an. Seither läuft etwa die „Quantified-Self“-Bewegung auf Hochtouren, also die Mode, die eigenen Körperfunktionen laufend im Auge zu behalten (Apps messen dabei über Smartphone-Zusatzgeräte etwa den Blutdruck, den Puls oder die Körpertemperatur).
„Aktuell finden sich in Apples App Store schon über 20.000 Apps, die alleine der Kategorie „Medizin“ zugeordnet sind“, sagt Urs-Vito Albrecht vom MedAppLab des P.L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik (PLRI) der TU Braunschweig und der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) zu Medscape Deutschland.
Sie erinnern daran, dass die Medikamente einzunehmen sind, erklären medizinische Fachbegriffe oder geben Empfehlungen zu Ernährung, Schwangerschaft oder Sport. Um solche Anwendungen einschätzen zu können, verlassen sich die User auf Kommentare und Anwendungsberichte im Web oder in den App-Stores. „Ob da wirklich ein medizinischer Nutzen entsteht oder nicht, bleibt oft unklar“, meint Albrecht.
Immer stärker zieht die App-Technik auch in den beruflich-medizinischen Alltag ein. Sie erinnern Klinikärzte an Klinikstandards, präsentieren ICD10-Schlüssel oder bündeln Fortbildungsangebote. Schätzungsweise 10.000 der medizinischen Apps seien auch für den Profi gedacht, mutmaßt Hägele.
Schon heute nutzen fast 3 Viertel der Ärzte und PJ-Sudierenden mindestens ein mobiles Endgerät, das Apps herunterladen kann, so die Studie „Smarte Mobiltechnologie im klinischen Alltag“ des PLRI: „Damit liegt der Gebrauch von Smartphones und Tablet-PCs deutlich höher als im Bundesdurchschnitt, welcher bei 29% für Smartphones und 8% bei Tablet-PCs liegt.“
Unter befragten Ärzten gaben 68% an, dass sie die Geräte privat erworben haben, aber zu 20% für dienstliche Zwecke nutzen. In erster Linie dienen die Apps ihnen zur Kommunikation und als Tor zu Nachschlagewerken über Medikamente oder zu Fachartikeln. Aber die meisten Apps müssen auf Treu und Glauben genutzt werden.
Apps außer Kontrolle
Denn was die Smartphone-Winzlinge nebenher so treiben, ist völlig unklar. „Aktuell werden medizinische Apps zumeist ohne jede Prüfung vertrieben“, sagt Albrecht. Manche Apps sammeln Daten, ohne dass der User es bemerkt, andere verzichten auf eine wasserdichte Verschlüsselung oder auf korrekte Datenschutzerklärungen.
„Von außen ist kaum feststellbar, ob eine App Daten abgreift und weiterleitet“, sagt denn auch Hägele. „Gefährlich wird es, sollten Hersteller systematisch Informationen sammeln und sie weiterverkaufen.“ Hägele will solche Praktiken auch für medizinische Apps nicht ausschließen.
Ein geregeltes Prüfungsverfahren gibt es indessen nur für Apps, die vom Hersteller als Medizinprodukt eingestuft werden, erklärt Raimund Dehmlow vom Aktionsforum Gesundheitsinformationssystem (afgis). „Sie sind meldepflichtig und müssen durch so genannte `benannte Stellen´ wie dem TÜV geprüft werden, wenn sie als Medizinprodukt durchgehen wollen.“
Für die zentrale Erfassung und Bewertung von Risiken ist das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) zuständig. „Allerdings hat etwa der TÜV gar nicht das Know How, um Apps zu prüfen“, vermutet Dehmlow.
Davon abgesehen ist die Prüfung keine Pflicht. „Der Gesetzgeber will eigenverantwortliche Hersteller“, erklärt Maik Pommer lapidar, Sprecher des (BfArM), „das BfArM ist nur für die Einstufung geprüfter Apps zuständig.“ Wie gering das Interesse der Hersteller denn auch ist, ihre Apps als Medizinprodukt zu klassifizieren, zeigen die Prüfanträge, die beim BfArM eingegangen sind. Pommer: „Wir diskutieren derzeit einige, relativ wenige Anträge. Bis jetzt haben wir noch keine App als Medizinprodukt eingestuft.“
Kurz: Die Apps sind quasi außer Kontrolle.
Freiwillige Prüfungen
Gerade deshalb sind App-Checks nötig, meint Dehmlow von afgis. Allerdings sind die Anwender auf den Goodwill der Hersteller angewiesen. So bietet zum Beispiel das Portal www.Gesundheitsapps.info des Zentrums für Telematik im Gesundheitswesen GmbH (ZTG) die freiwillige Selbstprüfung an.
Erst 15 Apps verzeichnet die Homepage, und nur zehn haben ein „Empfehlenswert“ erhalten. Die „Initiative Präventionspartner“ dagegen setzt auf eine freiwillige Selbstverpflichtung. Die Hersteller sollen sich einem „Ehrenkodex“ verpflichten. Damit sollen sie für die Quellen, die Autoren, die Finanzierung oder Richtigkeit der Angaben bürgen (www.healthon.de).
Albrecht hat indessen eine Synopse vorgeschlagen. Sie soll den Vergleich der verschiedenen Apps ermöglichen und dadurch das Gesamtangebot transparenter machen. Die Synopse umfasst unter anderem den Zweck der App, ob es Qualitätstests gibt, sowie Angaben über den Hersteller und so weiter. Eine solche Zusammenschau würde rasch offenbaren, welche Hersteller etwa Qualitätsnachweise oder Sicherheitschecks für ihre App bieten können und welche nicht.
Ganz anders Hägele, der Medizininformatiker. Er setzt auf den Druck des Marktes. „Derzeit sind wir noch in einer wilden Phase, in der alle möglichen Produkte angeboten werden“, meint Hägele. „Aber jeder Hersteller, der über seine App Daten abgreift oder schlechte Qualität bietet, wird in den nächsten zwei oder drei Jahren auffliegen.“
Bis dahin solle jeder Anwender seinen gesunden Menschenverstand einschalten. „Wenn eine gut ausgestattete medizinische App mit einigen interessanten Features entwickelt wird, kostet das zwischen 10.000 Euro und 20.000 Euro“, schätzt Hägele. „So etwas bekommt man dann nicht für 99 Cent. Und wenn doch, dann ist etwas faul.“