Cangrelor gewinnt das Duell der dualen Thrombosehemmung gegen Clopidogrel – vorerst

Steve Stiles | 14. März 2013

Autoren und Interessenskonflikte

San Francisco – Eine einzige Studie sollte gleich 2 Vergleiche liefern: Den einen zwischen 2 Adenosindiphosphat-(ADP)-Rezeptorblockern und den anderen zwischen intravenöser und oraler Thrombozytenhemmung. Die randomisierte CHAMPION-PHOENIX-Studie mit mehr als 11.000 Patienten ergab, dass der i.v. Wirkstoff Cangrelor im Vergleich zum langjährig erprobten oralen Clopidogrel bei einer perkutanen transluminalen koronaren Angioplastie (PTCA) das Komplikationsrisiko reduziert [1].

Unter Cangrelor gab es indikations-unabhängig im Vergleich zu Clopidogrel unmittelbar vor, während und nach dem Eingriff 22% weniger Komplikationen. Dies beruhte im Wesentlichen auf einer Reduktion von Myokardinfarkten (MI) und Stentthrombosen. Laut Studienergebnis gab es auch keine vermehrten Blutungskomplikationen. Dies jedoch unter Vorbehalt, denn je nach den zugrunde liegenden Definitionen traten gleichwohl manche Blutungsarten unter Cangrelor vermehrt auf.

 

Dr. Robert Harrington
 

Dennoch: Ein „gutes Gleichgewicht” von Nutzen und Risiko bescheinigte Dr. Robert Harrington von der Stanford University in Kalifornien und einer der Koordinatoren der CHAMPION-PHOENIX-Studie (Clinical Trial Comparing Cangrelor to Clopidogrel Standard of Care Therapy in Subjects Who Require Percutaneous Coronary Intervention) dem neuen Wirkstoff. Im Gespräch mit heartwire erläutert er: „Die aufgetretenen Blutungen zeigen, dass das neue Medikament tatsächlich ein potenteres Antithrombotikum als das Vergleichsmittel ist. Gleichzeitig sind diese Blutungen jedoch nicht so schwerwiegend, dass der so erzielte Erfolg bei der kombinierten Gerinnungshemmung Anlass zur Besorgnis gäbe."
„Periprozedural scheint Cangrelor i.v. im Vergleich zu oralem Clopidogrel die bessere ADP-Blockade-Strategie zu sein." Ob es auch besser als andere ADP-Rezeptorblocker, etwa Prasugrel oder Ticagrelor, ist, „und wie es sich in Therapiestrategien einfügt, in der diese Medikamente zunehmend genutzt werden, muss auf alle Fälle genauer erforscht werden", erläuterte er.
Die CHAMPION-PHOENIX-Studie wurde zeitgleich im New England Journal of Medicine veröffentlicht und bei der Jahrestagung des American College of Cardiology 2013 von Dr. Deepak L. Bhatt vom VA Boston Healthcare System und Brigham and Women's Hospital, Massachusetts, präsentiert. Bhatt ist sowohl Erstautor als auch einer der führenden Koordinatoren der Studie.

 

Dr. Deepak L. Bhatt
 

Das primäre Studienergebnis ist bereits im Januar von The Medicines Company in einer an die Investoren gerichteten Mitteilung bekannt gegeben worden. Bhatt und Kollegen zufolge war die CHAMPION-PHOENIX-Studie gestartet worden, nachdem die früheren Phase-3-Studien CHAMPION PCI und CHAMPION PLATFORM – an denen viele der jetzigen Studienautoren auch mitgewirkt hatten – zwar bezüglich des primären Wirksamkeitsendpunktes keinen Nutzen von Cangrelor gegenüber Clopidogrel gezeigt hatten, sehr wohl aber Vorteile bei einigen sekundären Endpunkten, etwa Stentthrombosen. Diese Überlegenheit ging seinerzeit nicht mit einem höheren Blutungsrisiko einher.
Cangrelor ist ein schnell wirkendes Antithrombotikum, dessen Wirkung nach dem Absetzen rasch reversibel ist. Laut Bhatt und Kollegen beträgt die Plasmahalbwertszeit 3 bis 5 Minuten. Das ist für akute Interventionen von Vorteil, denn im Unterschied dazu setzt die Wirkung von ADP-Rezeptor-Antagonisten, die oral verabreicht werden wie Clopidogrel erst nach einer Stunde ein. Dessen plättchenhemmende Wirkung hält zudem über mehrere Tage hinweg an. Sollte bei den Patienten, um die es hier geht, eine Bypass-Operation notwendig werden, ist unter Clopidogrel eine Wartezeit von mehreren Tagen ratsam.
Harrington sieht die Studie zumindest teilweise als Vergleich zweier Behandlungsstrategien und bemerkte dazu: „Es steht außer Frage, dass die Wirkung der Thrombozytenhemmung beim i.v. verabreichten Cangrelor leichter vorhersehbar ist als bei dem oral verabreichten Clopidogrel."
„Deutliche Überlegenheit"

Auf einer Pressekonferenz zur Studie sagte Bhatt, dass CHAMPION-PHOENIX für das i.v. verabreichte Mittel „eine deutliche Überlegenheit und den durchgängigen Nutzen für alle Untergruppen, an die ein Arzt denken muss, demonstriert" habe. Darüber hinaus, fügte er hinzu, erlaube Cangrelor aufgrund seiner kurzen, schnellen Wirkung viel Flexibilität bei der Behandlung, weil die eingeleitete ADP-Inhibition gegebenenfalls rasch wieder gestoppt werden kann, falls der Patient beispielsweise operiert werden muss oder Blutungskomplikationen auftreten.
Dagegen müsse ein Patient nach dem Absetzen von Clopidogrel möglicherweise tagelang im Krankenhaus abwarten, bis die ADP-Inhibition für die OP abgeklungen sei. „Mit Cangrelor kann diese unangenehme Situation nun umgangen werden", meinte Bhatt.
Bhatt wurde auf der Pressekonferenz von zahlreichen bekannten Interventionskardiologen begleitet, die die Veränderungen für ihr Arbeitsgebiet im Fall der Zulassung von Cangrelor in den USA. in schillernden Farben ausmalten.

 

Dr. Cindy L. Grines
 

„Das Großartige an dieser Studie ist, dass sowohl Patienten, die einen ST-Hebungsinfarkt (STEMI) oder eine instabile Angina pectoris hatten, als auch elektive PTCA-Fälle aufgenommen wurden. Denn für die elektive PTCA liegen nur wenige einschlägige Studien vor", sagte Dr. Cindy L. Grines vom Detroit Medical Center, Michigan.
Und weiter „zeigt die Studie uns, dass es nicht unbedingt notwendig ist, diese Patienten mit ADP-Blockern vorzubehandeln. Trotzdem können wir ihnen, sobald die Laborwerte da sind, jetzt eine sehr rasch wirkende, rasch einsetzende Medikation verabreichen." Hierdurch bestehe die Möglichkeit, das Risiko von Stentthrombosen und intraprozeduralem Herzinfarkten zu reduzieren.
Sie fügte hinzu, dass im Fall auftretender Blutungskomplikationen die ADP-Inhibition durch Absetzen der Infusion innerhalb von wenigen Minuten abgebrochen werden könne. „Das lässt sich mit keinem anderen Mittel auf dem Markt erreichen."

 

Dr. Martin Leon
 

Dr. Martin Leon von der Columbia University in New York zeigte sich ebenfalls begeistert: „Dies ist meines Erachtens eine außerordentliche Studie. Sie hat in meinen Augen globale Implikationen für die Behandlung von PTCA-Patienten. Besonders beeindruckt bin ich davon, dass sie auf das gesamte Spektrum aller PTCA-Patienten verallgemeinert werden kann. Äußerst ansprechend ist zudem, dass die Vorbehandlung der Patienten entfällt. Auch der rasche Wechsel zwischen Inhibition und Nachlassen der Wirkung ist bedeutsam für viele klinische Szenarien, mit denen wir es Tag für Tag zu tun haben. Wir können mit Cangrelor potenzielle Blutungskomplikationen besser in den Griff bekommen und sind flexibler, weil die Patienten schneller operationsbereit sind. Deshalb halte ich CHAMPION-PHOENIX für eine außerordentlich wichtige Studie."
Da Cangrelor voraussichtlich sehr viel mehr kosten wird als Clopidogrel, hielt sich Leon eher zurück, was die generelle Empfehlung des i.v. Medikamentes als Routinemittel betraf: „Ich denke schon, dass es global eingesetzt werden kann, aber die damit verbundenen Kosten legen für manche Gesundheitssysteme eher einen selektiven Einsatz nahe."
Cangrelor bei allen PTCA-Kandidaten?

In der CHAMPION-PHOENIX-Studie erhielten 11.145 Patienten bei Notfall- oder elektiver PTCA randomisiert und doppelt-blind entweder Cangrelor als Bolus plus Infusion oder Clopidogrel in einer Anfangsdosis von 600-mg bzw. 300-mg. Diese Patienten waren aufgrund von stabiler koronarer Herzkrankheit (KHK), ST-Hebungsinfarkt (STEMI) oder Nicht-ST-Hebungsinfarkt (NSTEMI) ins Katheterlabor gekommen.
Cangrelor wurde zunächst als Bolus von 30 µg/kg verabreicht, gefolgt von einer Infusion mit 4 µg/kg/min für mindestens zwei Stunden. Als primärer Endpunkt für die Wirksamkeit galt eine Kombination aus Tod, Myokardinfarkt, ischämiebedingter Revaskularisation oder Stenttthrombose innerhalb von 48 Stunden nach dem Eingriff.
Wirksamkeitsergebnisse 48 Stunden nach Randomisierung, Cangrelor vs. Clopidogrel

Endpunkte HR (95% KI) p
Primärer Wirksamkeitsendpunkt* 0,78 (0,66–0,93) 0,005
Stentthrombose 0,62 (0,43–0,90) 0,01
MI 0,80 (0,67–0,97) 0,02

*Gesamtmortalität, MI, ischämiebedingte Revaskularisierung, Stentthrombose

„Die Ergebnisse stimmten in den multiplen Subgruppen überein, was in meinen Augen das Gesamtergebnis bestärkt und stützt", meinte Harrington. „Eine solche Übereinstimmung erwartet man in großen Studien, und ich denke, sie liegt auch hier vor."
Die Einschätzung des Blutungsrisikos durch Cangrelor hängt nach seiner Aussage von der Blutungsdefinition ab. Legt man die GUSTO-Kriterien für die Definition des primären Endpunktes im Hinblick auf die Sicherheit der Substanz zugrunde, so gab es keine signifikant unterschiedlichen Blutungsraten in den beiden Behandlungsarmen der Studie. „Legt man jedoch strengere Maßstäbe an, wie die ACUITY-Blutungskriterien, traten unter Cangrelor mehr Blutungen auf als unter Clopidogrel", erläuterte Harrington.
Blutungskomplikationen nach unterschiedlichen Blutungskriterien, Cangrelor vs. Clopidogrel

Blutungskomplikation HR (95% KI) p
GUSTO-Kriterien*    
Schwere, Non-CBAG-(Coronary Artery Bypass Graft)-Blutungen 1,50 (0,53–4,22) 0,44
Schwere oder moderate Blutungen 1,63 (0,92–2,90) 0,09
TIMI-(Thrombolysis in Myocardial Infarction)-Kriterien    
Schwere Blutungen         1,00 (0,29–3,45) >0,999
Leichtgradige Blutungen 3,00 (0,81–11,10) 0,08
ACUITY-(Acute Catheterization and Urgent Intervention Triage Strategy)-Kriterien    
Schwere Blutungen 1,72 (1,39–2,13) <0,001
Leichte Blutungen 1,42 (1,26–1,61) <0,001

*Primärer Sicherheitsendpunkt

In einem begleitenden Leitartikel schätzen Dr. Richard A. Lange und Dr. L. David Hillis vom University of Texas Health Sciences Center in San Antonio die Bedeutung von Cangrelor für die PTCA sehr viel weniger enthusiastisch ein, als dies in der Pressekonferenz der Fall war [2]. Sie fragen vor allem: „Wie passt Cangrelor in das therapeutische Instrumentarium der dualen antithrombozytären Therapie?“
Der Vergleich hinke außerdem, da sich die volle antithrombozytäre Wirkung von Cangrelor „vor und während der PTCA“ entfalten konnte. Dies treffe jedoch nicht auf Clopidogrel zu, 37% der Patienten hatten das Mittel erst während oder nach der PTCA erhalten. Außerdem hätten viele der Patienten nur die 300-mg-Dosis Clopidogrel bekommen, die aber der 600-mg-Dosis in der Thrombozytenhemmung und für die Prävention ischämischer Ereignisse unmittelbar vor, während und nach einem Eingriff unterlegen sei.
Außerdem beantworte der Vergleich mit Clopidogrel nicht die Frage, wie Cangrelor im Vergleich zu potenteren Mitteln unter den oralen Plättchenhemmern abschneiden würde, etwa zu Ticagrelor oder Pasugrel, wie sie Patienten mit akutem Koronarsyndrom – das waren immerhin 44% in dieser Studie – erhalten.
Manche Patienten profitierten sicherlich von einem i.v. ADP-Rezeptorblocker wie Cangrelor, schreiben Lange und Hillis, dennoch sei "die routinemäßige Anwendung dieser Therapie bei allen PTCA-Patienten aufgrund dieser Studie noch nicht gerechtfertigt."

Dieser Artikel wurde von Andrea Thode aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.

Referenzen

Referenzen

  1. Bhatt DL, et al: NEJM (online) 10. März 2013;
    http://dx.doi.org/10.1056/NEJMoa1300815
  2. Lange RA, et al: NEJM (online) 10. März 2013;
    http://dx.doi.org/10.1056/NEJMe1302504

Autoren und Interessenskonflikte

Steve Stiles
Es liegen keine Erklärungen zu Interessenkonflikten vor.

Die CHAMPION-PHOENIX-Studie wurde von The Medicines Company gefördert.
Harrington R: finanzielle Mittel für seine Institution, Reisekosten und Honorare von The Medicines Company; finanzielle Mittel für seine Institution von Eli Lilly, Sanofi, Daiichi Sankyo, GlaxoSmithKline, Bristol-Myers Squibb, AstraZeneca, Johnson & Johnson, Portola und Merck; Honorare von Eli Lilly, Sanofi, Daiichi Sankyo, Bristol-Myers Squibb, Merck, Johnson & Johnson, Portola, Gilead und WebMD;

Bhatt DL: Honorare vom American College of Cardiology, Duke Clinical Research Institute, Slack Publications und WebMD; Forschungsmittel von Amarin, AstraZeneca, Bristol-Myers Squibb, Eisai, Ethicon, Medtronic, Sanofi und The Medicines Company;

Weitere Erklärungen zu Interessenkonflikten der anderen Autoren stellt das Fachjournal unter www.nejm.org zur Verfügung.

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