Das eigene Körpergewicht wird Kindern immer mehr zur Last, körperlich und psychisch. Dass sich schon junge Menschen massiv um ihr Gewicht sorgen, hat jetzt die Schüler-Umfrage des LBS-Kinderbarometers bestätigt [1]. Zwar schätzen 2 Drittel der 9- bis 14jährigen ihr Körpergewicht als „genau richtig“ ein, jedes 4. Kind aber klagt, es sei zu dick, jedes 3. hat gar schon eine Diät hinter sich. Und jedes 20. Kind denkt sogar darüber nach, sich Fett absaugen zu lassen.
Die Umfrage-Ergebnisse überraschen nicht, wie Prof. Dr. med. Thomas Reinehr, Chefarzt der Abteilung für Pädiatrische Endokrinologie, Diabetes und Ernährungsmedizin an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik der Universität Witten/Herdecke gegenüber Medscape Deutschland bestätigt.
Dass jedes vierte Kind sich als zu dick empfinde, und insbesondere pubertierende Mädchen Diät-Erfahrungen aufweisen, ist wissenschaftlich nichts Neues. „Der BMI der jeweiligen Miss Germany wird immer kleiner, die Medien- und Werbewelt gibt das in gewisser Weise auch vor“, berichtet Reinehr. Mit fatalen Auswirkungen auf das Körpergefühl der Kids: „Das ist schrecklich, wenn der eigene Körper nicht akzeptiert, sondern als Strafe empfunden wird.“
Das Kinderbarometer der Landesbausparkassen liefert seit 1997 Ergebnisse zum Wohlbefinden der Kinder aller Schultypen in Nordrhein-Westfalen. 2007 wurde es erstmals auf das gesamte Bundesgebiet ausgeweitet, befragt werden Jungen und Mädchen zwischen 9 und 14 Jahren. Das Kinderbarometer umfasst 57 Fragen zu verschiedenen und immer wechselnden Bereichen, darunter 10 zum Thema Ernährung, Körpergefühl und Sport.
Die Frage zu möglichen medizinischen Eingriffen, die von jedem 20. Kind mit „Fettabsaugung“ beantwortet wurde, fehlte 2007, insofern besteht keine Vergleichsmöglichkeit. „Wenn Kinder darin die einzige Möglichkeit sehen, sich in ihrer Haut wohl zu fühlen, dann ist das sehr bedenklich. Denn die Zufriedenheit mit dem eigenen Körper beeinflusst das Wohlbefinden der Kinder in allen Lebensbereichen“, erklärt Dr. Christian Schröder der Sprecher des LBS-Kinderbarometers gegenüber Medscape Deutschland.
Vergleicht man die aktuellen Ergebnisse mit denen der Umfrage von 2007 hat sich wenig verändert. Fast Dreiviertel der befragten Kinder treibt mehrmals die Woche Sport, weitere 14% mindestens einmal die Woche. Fahrrad fahren und Skaten sind am beliebtesten. Und 4 von 5 Kindern treiben Sport im Verein. „Es ist sogar so, dass mehr Kinder als noch 2007 Sport im Verein treiben“, erklärt Schröder. Die Zahl der Kinder die sich „zu dünn“ findet, lag 2007 wie auch jetzt bei 8%.
Realistische Selbsteinschätzung der Kids?
Wie realistisch ist die Selbsteinschätzung der Kinder? Das klärt die Umfrage nicht: „Ganz bewusst wird das Gewicht nicht erhoben“, berichtet Schröder. Stelle man die Kinder auf die Waage und konfrontiere sie dann womöglich mit ihrer Selbsteinschätzung, führe das zu Problemen, setzt er hinzu.
Laut Robert Koch-Institut (RKI) ist jedes sechste Kind in Deutschland zu dick. Nach den Ergebnissen der KiGGS-Basiserhebung, die von 2003 bis 2006 Daten zur Gesundheit von Kindern im Alter von 3 bis 17 Jahren erhob, gelten 15% der 7- bis 10jährigen als übergewichtig. Bei den 14- bis 17-Jährigen sind es sogar 17%. Der Anteil von Adipositas (Fettleibigkeit) liegt bei 6,4 und im höheren Alter bei 8,5%. Die Datenerhebung der KiGGS-Nachfolgestudie „Welle 1“ ist seit Mitte vergangenen Jahres abgeschlossen, die Ergebnisse sollen Ende des Jahres vorliegen. [2]
Diäten seien zwar nicht sinnvoll, entsprächen aber dem Lebensgefühl auch vieler Erwachsener, ein langfristiges Problem mit kurzfristigen Mitteln beseitigen zu wollen. „Jugendliche möchten natürlich, dass es schnell geht.“ Hinzu kommt, dass übergewichtige Kinder oft unter Mobbing leiden. Mit fatalen Folgen: „Die Lebensqualität übergewichtiger und adipöser Kinder ist geringer als die krebskranker Kinder“, gibt Reinehr zu bedenken.
Vor dem Hintergrund ständig propagierter Schönheitsideale sei wenig verwunderlich, dass Kinder und Jugendliche über Fettabsaugung nachdächten: „Der Körper wird nicht als naturgegeben akzeptiert“. Wobei beim Thema Fettabsaugung nicht klar sei, ob sich dies auf schönheitschirurgische Aspekte oder eben auf das Gewicht beziehe. In den USA, so Reinehr, habe sich die Zahl der Jugendlichen, die sich bariatrisch operieren ließen, in den letzten 2 Jahren verfünffacht.
Viel Fingerspitzengefühl notwendig
Wie spricht der Kinder- oder Hausarzt das Problem Übergewicht am besten an? Ältere Kinder könne man fragen: Wie fühlst Du Dich, wie siehst Du Dich selbst? „Dann kann man vorsichtig mit Perzentil-Kurven und BMI-Werten argumentieren“, so Reinehr. Viel Fingerspitzengefühl ist notwendig. Je jünger das Kind, desto wichtiger ist es, die Eltern, vor allem die Mütter mit ins Boot zu holen. „96% der Mütter mit adipösen Kindern unter fünf Jahren halten ihr Kind für normalgewichtig“, ist Reinehrs Erfahrung. Man müsse also sehr aufpassen, dass eine Mutter, auf das Problem angesprochen, nicht in Abwehrhaltung gehe.
Auf die Frage, wie sich das Körpergefühl von Kindern und Jugendlichen verbessern lässt, rät Dr. Andrea Lambeck, Geschäftsführerin der Plattform für Ernährung und Bewegung (peb) in Berlin: „Kinder sollten sich ausreichend bewegen, denn viel Bewegung schafft automatisch ein gutes Körpergefühl.“ Das muss nicht immer Sport im Verein sein, erklärt die Expertin: Bewegung im Alltag, Erledigungen zu Fuß oder mit dem Rad lassen sich leicht umsetzen und machen Spaß.
Betrachte man die Ergebnisse der Einschulungsuntersuchungen in den letzten 3 Jahren, stagniere das Übergewicht. Allerdings auf hohem Niveau. „Die Häufigkeit ist zwar gleich geblieben, doch die Kinder die schon übergewichtig sind, werden noch übergewichtiger“, so Reinehr. Hinzu komme, dass die Prävalenz zum Übergewicht sich in der 3. und 4. Klasse erst richtig auspräge.
Das erklärt auch, weshalb die Zahl extrem adipöser Jugendlicher zunimmt. „Die Schere geht immer weiter auseinander“, schließt der Experte. Dass übergewichtige Kinder dann stetig mehr an Gewicht zulegen habe mit „mehr essen“ wenig zu tun, erklärt Lambeck und stellt klar: „Das schaukelt sich hoch.“ Wer übergewichtig sei und sich nicht wohl in seiner Haut fühle, setze sich vielleicht lieber aufs Sofa statt sich zu bewegen. Und… nimmt weiter zu.