Wenige Tage nach der Veröffentlichung eines Berichtes der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu den möglichen Folgen des Reaktorunglücks von Fukushima hat die Organisation „Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung“ (IPPNW) eine Bilanz ganz anderer Art vorgelegt. Sie gehen von wesentlich schlimmeren Gesundheitsrisiken für die japanische Bevölkerung aus.
Schon die Schätzungen der WHO zur Strahlenbelastung basierten auf fehlerhaften Annahmen, heißt es in einer Presseerklärung des IPPNW, die sich dabei auf eine Analyse des Kinderarztes Dr. med. Alex Rosen (Universitätskinderklinik Köln) beruft, die im Vorjahr auf der Webseite fukushima-desaster.de veröffentlicht worden ist [1]. Rosen ist selbst Mitglied des IPPNW und hat provokativ Atomenergie und Atomwaffen als 2 Seiten der gleichen Medaille bezeichnet.
An den Annahmen der WHO-Experten kritisiert er, dass die Schätzung der freigesetzten radioaktiven Partikel zu niedrig sei. Man habe die Belastung der Bevölkerung innerhalb der 20-km-Zone während der Evakuierung ignoriert, die Menge und Auswahl der Nahrungsmittelproben für die Berechnung der Strahlendosen sei unzureichend gewesen und schließlich bestünden handfeste Interessenkonflikte bei den Autoren.
An anderer Stelle heißt es, die jetzt veröffentlichte Schadensabschätzung der WHO sei „großenteils erneut von Wissenschaftlern mit augenscheinlichem Interessenkonflikt erstellt“ worden. Tatsächlich werden Interessenkonflikte in einer separaten Sektion des Berichtes auch erwähnt – sie betreffen allerdings nur 3 unter den 38 Experten und 9 Beobachtern.
Die IPPNW, die 1985 den Friedensnobelpreis für ihre „sachkundige und wichtige Informationsarbeit“ erhalten hatte, durch die das Bewusstsein über die „katastrophalen Folgen eines Nuklearkrieges“ in der Bevölkerung erhöht werde, hat heute etwa 150.000 Mitglieder, davon etwa 8.000 in Deutschland.
Der Presseerklärung folgte ein Bericht der IPPNW-Mitglieder Henrik Paulitz, Dr. Winfrid Eisenberg und Reinhold Thiel, wonach „erste gesundheitliche Folgen jetzt schon, nach nur zwei Jahren, wissenschaftlich nachweisbar“ seien [2].
Geburtenrückgang, Schilddrüsenschäden und Krebs
Zu diesen Folgen zählt die atomkritische Ärzteorganisation 9 Monate nach dem Reaktorunglück – im Dezember 2011 – einen Rückgang der Geburten um 4,7% in ganz Japan und um 15% in der Präfektur Fukushima im Vergleich zum Trend der Jahre 2006 bis 2011, wie der Nürnberger Physiker Dr. Alfred Körblein anhand offizieller Statistiken berechnet hat [3].
In absoluten Zahlen entspräche dies 4.571 Kindern, die aufgrund des Reaktorunglücks nicht zur Welt gekommen sind. Laut Körblein soll auch die Säuglingssterblichkeit 2 bzw. 9 Monate nach dem Unfall in ganz Japan angestiegen sein – und zwar um 4%, was 75 verstorbenen Säuglingen entspricht.
Außerdem konstatiert der IPPNW-Bericht einen erheblicher Anstieg von Schilddrüsenzysten und Schilddrüsenknoten bei Kindern bis zum Alter von 18 Jahren. Hier beruft man sich auf einen Bericht der Gesundheitsbehörde der Präfektur Fukushima vom Ende April 2012, wonach unter mehr als 38.000 untersuchten Kindern 35% Schilddrüsenzysten hatten und 1% Schilddrüsenknoten [4]. Im Februar 2013 waren der Behörde zufolge 133.000 Kinder untersucht worden, 41,8% hätten Schilddrüsenveränderungen aufgewiesen.
In weiteren Berechnungen haben die IPPNW-Autoren versucht, die Zahl der zusätzlichen Krebserkrankungen in Japan abzuschätzen. Sie kommen auf einen Wert zwischen 19.000 bis 41.000 durch die Strahlenbelastung der Umwelt sowie weitere 18.000 Krebserkrankungen, die durch die Aufnahme verseuchter Lebensmittel verursacht würden.
Mit Blick auf die Einschätzung der WHO, die das Risiko als geringfügig eingestuft hatte, heißt es, der Bericht der Weltgesundheitsorganisation „liefert keine wissenschaftlich objektiven oder zuverlässigen Daten, die von Ärzten und Entscheidungsträgern für zukünftige Empfehlungen genutzt werden könnten.“