Palliativmedizin lässt länger leben

Dr. med. Sylvia Bochum | 5. März 2013

Autoren und Interessenskonflikte

Die frühzeitige palliativmedizinische Versorgung von Patienten mit weit fortgeschrittenem Lungenkarzinom bessert nicht nur die Lebensqualität, sondern auch die Lebenserwartung. Dies war das überraschende Resultat einer 2010 von Dr. Jennifer S. Temel publizierten Studie. Wie dieses Ergebnis zustande kam, das hat die Autorin jetzt genauer untersucht und die Ergebnisse in JAMA Internal Medicine veröffentlicht.

Gemeinsam mit Jaclyn Yoong und Kollegen am Massachusetts General Hospital in Boston konnte sie zeigen, dass vor allem der Aufbau einer vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung zu Beginn der palliativmedizinischen Versorgung dafür verantwortlich war. Außerdem spielte die Symptomkontrolle eine wichtige Rolle. Das frühe palliativmedizinische Engagement besserte zudem die psychische Verfassung [1].

„Die Palliativmedizin darf sich nicht nur für das Lebensende verantwortlich fühlen”, schlussfolgert daher Prof. Dr. med. Claudia Bausewein, Leiterin des Interdisziplinären Zentrums für Palliativmedizin am Klinikum der Universität München.

Dass Patienten mit einer unheilbaren, fortgeschrittenen Krebserkrankung von der palliativmedizinischen Versorgung profitieren, ist seit langem unbestrittenen. Ihre körperlichen und psychischen Beschwerden werden dabei durch ein multidisziplinäres Team behandelt, das in der Regel von einem Palliativmediziner geleitet wird.

In mehr als 220 Kliniken in Deutschland gibt es inzwischen speziell ausgewiesene Palliativstationen. Meist werden die Patienten dort allerdings erst dann aufgenommen, wenn die onkologischen Therapiemöglichkeiten weitgehend ausgeschöpft sind und der Tod absehbar ist.

Arzt-Patienten-Beziehung im Fokus

Aufsehen erregte die von Temel in den Jahren 2006 bis 2009 vorgenommene Studie, weil bei den 151 prospektiv randomisierten Patienten mit neu diagnostiziertem metastasiertem nicht-kleinzelligem Lungenkarzinom (NSCLC) die frühzeitige und systematische Integration eines palliativmedizinischen Teams in die Betreuung der Patienten deren Überlebenszeit signifikant von 8 auf 11 Monate verlängerte – und dies, obwohl sie gegen Ende ihres Lebens meist weniger aggressiv therapiert wurden. Außerdem berichteten die Patienten über eine höhere Lebensqualität und zeigten seltener Anzeichen einer Depression [2].

Allerdings ging aus der Studie seinerzeit nicht hervor, welche Aspekte der frühen palliativen Betreuung für die verbesserte Lebensqualität und vor allem die Lebensverlängerung verantwortlich waren. Um dies herauszufinden, wurden die nach jedem Kontakt von den Therapeuten in der Patientenakte dokumentierten Maßnahmen und Inhalte jetzt einer retrospektiven qualitativen Analyse unterzogen.

Dabei zeigte sich, dass in den verschiedenen Phasen der Erkrankung ganz unterschiedliche Themen im Fokus standen. Während die initialen Kontakte vor allem dem Aufbau einer vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung und der Informationsvermittlung hinsichtlich Behandlung und Prognose dienten, adressierten oft erst die letzten Kontakte vor dem Tod jene Themen, die sich mit der unmittelbaren Sterbephase beschäftigten.

Die Kontrolle von krankheitsassoziierten Symptomen und die Entwicklung von Bewältigungsstrategien im Umgang mit der Erkrankung war dagegen im gesamten Verlauf der Erkrankung Gegenstand der Gespräche.

Trat eine akute Verschlechterung des Gesundheitszustandes ein, diskutierten die palliativmedizinisch betreuten Patienten mit den sie behandelnden Onkologen neben Vorkehrungen für das bevorstehende Lebensende vornehmlich die verschiedenen, noch vorhandenen Therapieoptionen. Die Gespräche mit dem Palliativmediziner konzentrierten sich dagegen vor allem auf die psychosozialen Auswirkungen der neuen Situation – und zwar sowohl auf den Patienten selbst als auch auf dessen Familie.

Schwierige Themen machen nicht den Anfang

„Die frühe Einbindung einer palliativmedizinischen Betreuung ist nicht gleichbedeutend damit, dass schwierige Themen wie Wünsche hinsichtlich Wiederbelebungsmaßnahmen oder Sterbebegleitung sofort angesprochen werden müssen“, kommentierten Temel und Yoong. Diese Befürchtung sei bei vielen Ärzten und Patienten vorhanden und führe oft zu negativen Vorbehalten.

Die aktuelle Studie zeige stattdessen, dass die frühe palliativmedizinische Begleitung vor allem die Chance für den Aufbau einer tragfähigen Beziehung eröffne, die dem Patienten und seiner Familie zu einem späteren Zeitpunkt das Treffen komplexer und weitreichender Therapieentscheidungen erleichtert.

„Die Palliativmediziner sind den Patienten eine wichtige Stütze, wenn es darum geht, die Vorteile und Risiken einer Behandlung abzuwägen“, vermutet Temel. Dies könne auch erklären, warum in der frühzeitig palliativmedizinisch betreuten Gruppe die Patienten gegen Ende ihres Lebens signifikant seltener eine aggressive Therapie (z.B. eine Chemotherapie) erhielten als in der Standardgruppe.

 
„Es spricht für sich, dass die palliativmedizinisch betreuten Patienten in der Studie trotz einer weniger aggressiven Therapie im Mittel länger lebten.“
 

Onkologie und Palliativmedizin ergänzen sich

Die Palliativmedizinerin Bausewein sieht in der Studie nicht zuletzt einen Beleg dafür, dass sich Onkologie und Palliativmedizin nicht gegenseitig ausschließen, sondern sinnvoll ergänzen können. „Wir nehmen einen anderen medizinischen Blickwinkel ein als die Onkologen, indem wir weniger auf die Ursachen einer Erkrankung schauen, sondern mehr auf die Symptome“, erklärt sie.

Zudem erlaube die frühzeitige palliativmedizinische Betreuung dem Patienten eine behutsame Auseinandersetzung mit seiner Erkrankung – und auch mit der Frage, was er sich für die verbleibende Lebenszeit wünscht. „Es spricht für sich, dass die palliativmedizinisch betreuten Patienten in der Studie trotz einer weniger aggressiven Therapie im Mittel länger lebten”, hebt Bausewein hervor.

Damit sei endlich auch das alte Vorurteil ausgeräumt, dass nur das Ausschöpfen aller Behandlungsoptionen mit einer Verlängerung der Lebenszeit einhergehe. Obwohl die Palliativmedizin personalintensiv und deshalb nicht billig sei, leiste sie auf diese Weise sogar einen wichtigen Beitrag zur Kostensenkung im Gesundheitswesen.

Aktuell erarbeitet Bausewein unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin gemeinsam mit zahlreichen Fachexperten eine S3-Leitlinie Palliativmedizin. Diese soll bis 2014 fertiggestellt sein. Der Frage, wann die palliativmedizinische Versorgung beginnen soll, wird ein zentrales Kapitel gewidmet sein. In dieses werden auch die von Temel erhobenen Daten einfließen. „Diese besitzen eine Evidenz, die man nicht so einfach vom Tisch wischen kann“, erklärt Bausewein.

Referenzen

Referenzen

  1. Yoong J, et al: JAMA Intern Med. 2013;173(4):283-250
  2. Temel JS, et al: N Engl J Med. 2010;363(8):733-42
    http://dx.doi.org/10.1056/NEJMoa1000678

Autoren und Interessenskonflikte

Dr. med. Sylvia Bochum
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