Der Reaktorunfall von Fukushima wird das Krebsrisiko für den Großteil der japanischen Bevölkerung nicht erhöhen, und auch innerhalb des betroffenen Bezirks ist langfristig nur in wenigen Regionen mit einer geringfügig, wenn auch signifikant erhöhten Zahl bösartiger Erkrankungen zu rechnen. Dies ist das Ergebnis einer umfassenden Bewertung durch Experten im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation, WHO). „Für die Allgemeinbevölkerung innerhalb und außerhalb Japans sind die vorhergesagten Risiken gering und es wird kein merklicher Anstieg der Krebshäufigkeit über die Basisrate hinaus erwartet“, heißt es in dem 172-seitigen Bericht, der im Internet kostenlos in 5 Sprachen verfügbar ist.
Die Schätzungen beruhen auf Modellrechnungen
Fast genau 2 Jahre ist es her: Am 11. März 2011 führte das bislang größte Erdbeben in Japan und ein dadurch ausgelöster Tsunami zur Freisetzung radioaktiver Materialien aus mehreren Reaktoren des Kernkraftwerks in Fukushima. Beim zweitschlimmsten Unfall in der Geschichte der Nuklearindustrie musste die nur 200 Kilometer von Tokyo entfernte Region in einem Umkreis von 20 Kilometern um die Reaktoren evakuiert werden. Mit bis zu 4-monatiger Verzögerung wurden danach auch Menschen in weiteren besonders schwer betroffenen Gegenden umgesiedelt.
Die WHO ist bei solchen Ereignissen aufgrund internationaler Vereinbarungen ermächtigt, die Risiken für die Öffentlichkeit abzuschätzen und darauf zu reagieren. Ein Ergebnis ist der nun vorgelegte Bericht, der auf einer vorläufigen Abschätzung der Strahlendosen beruht und an dem neben 21 externen Experten 17 Mitarbeiter der WHO sowie 9 Beobachter verschiedener internationaler Organisationen beteiligt waren.
Um das Risiko zu ermitteln, gingen die Autoren des Berichts in 4 Schritten vor:
- Sie identifizierten die spezifischen Strahlungsquellen sowie die Art der Radionuklide und die Art der Exposition (Ablagerungen am Boden, Inhalation, Strahlung aus der Wolke und über die Nahrungskette).
- Sie bestimmten die möglichen Schadenstypen anhand des vorhandenen Wissens über den Zusammenhang zwischen Strahlendosis und biologischer Wirkung.
- Ausgehend von den vorläufigen Dosisbestimmungen und dem Wohnort der Menschen errechneten die Forscher die Dosis, denen einzelne Organe über die gesamte Lebenszeit ausgesetzt sind. Für die Arbeiter, die an den Rettungsmaßnahmen beteiligt waren, wurden für diese Berechnungen Daten genutzt, die die Betreiber des Kraftwerkes gemessen hatten.
- Schließlich errechneten die Experten das Lebenszeitrisiko für die Entstehung jeglicher solider Tumoren, sowie für jene Körperpartien, die als besonders strahlenempfindlich bekannt sind, und von denen man weiß, dass die Größe des Risikos mit dem Alter zur Zeit der Exposition korreliert, nämlich Leukämien, Schilddrüsenkrebs und weiblichem Brustkrebs.
Ein Grund für zukünftige Kontroversen dürfte sein, dass die Schätzungen größtenteils auf Modellrechnungen beruhen und nicht etwa auf dosimetrischen Bestimmungen in der betroffenen Bevölkerung. „Der WHO-Bericht spielt in schamloser Weise die Auswirkungen der frühen radioaktiven Emissionen auf die Menschen in der 20-Kilometer-Zone herunter, die die Gegend nicht schnell genug verlassen konnten“, sagte beispielsweise Rianne Teule, Atomkraftexpertin bei Greenpeace International.
Tatsächlich gehen die WHO-Experten von einer vergleichsweise geringen Strahlenbelastung aus. In den beiden am stärksten betroffenen Gegenden innerhalb der Präfektur Fukushima habe die effektive Dosis, die bereits die unterschiedliche Empfindlichkeit der Organe berücksichtigt, im ersten Jahr nach dem Unfall zwischen 12 und 25 Millisievert (mSv) gelegen, heißt es in dem Bericht, was in etwa der Größenordnung einer Ganzkörpertomographie entsprechen würde.
Nur „kleine Zunahmen“ erwartet
Auf dieser Basis erwarten die Forscher im Gebiet mit der höchsten Belastung einen Anstieg der Lebenszeitprävalenz von Leukämien um relativ 7% für Männer, die als Kleinkinder der Strahlung ausgesetzt waren. Die Brustkrebshäufigkeit bei als Kleinkind exponierten Frauen würde um relativ 6% ansteigen, die aller solider Tumoren in dieser Bevölkerungsgruppe um 4%. Den im Verhältnis größten Anstieg der Werte prognostizieren die Experten beim Schilddrüsenkrebs, der unter als Kleinkind exponierten Frauen voraussichtlich um 70% zunehmen wird. Dies bedeute aber wegen der Seltenheit der Erkrankung nur eine kleine Zunahme des absoluten Risikos von 0,75% auf 1,25%.
Für die am zweitstärksten betroffene Region würden nur halb so starke Zuwächse bei der Krebshäufigkeit erwartet, und in dem am drittstärksten betroffenen Bereich, wo effektive Jahresdosen zwischen 3 und 5 mSv errechnet wurden, sei das Krebsrisiko lediglich um ein Viertel bis ein Drittel höher als im Zentrum der Kontamination.
Unter den etwa 23.000 Mitgliedern der Rettungsmannschaften und den Aufräumarbeitern des Kraftwerkes müsse etwa ein Drittel mit höheren Krebsraten rechnen, und einige, die signifikante Mengen radioaktiven Jods eingeatmet haben, könnten nicht kanzeröse Schilddrüsenerkrankungen entwickeln. Zwei Drittel dieser Arbeiter hätten jedoch ein der Allgemeinbevölkerung vergleichbares Krebsrisiko.
Darüber hinaus erwarten die Experten keine messbaren Auswirkungen. „Jenseits der geographischen Regionen, die von der Strahlung am meisten betroffen sind – sogar in Gegenden innerhalb der Präfektur Fukushima – bleiben die vorausgesagten Risiken klein, und es wird keine zu beobachtende Zunahme der Krebsfälle über die natürlichen Schwankungen der Häufigkeit erwartet“, sagt Dr. Maria Neira, WHO-Direktorin für Öffentliche Gesundheit und Umwelt.
„Die geschätzten Strahlendosen in der Präfektur Fukushima waren auch zu niedrig, um die fötale Entwicklung zu beeinflussen oder das Ergebnis von Schwangerschaften“, so Neira. Deshalb würden als Folge der antenatalen Strahlenexposition nicht mehr Tot- und Fehlgeburten erwartet und auch keine körperlichen oder psychischen Probleme unter den Neugeborenen.
Mehrfach wird in dem Bericht betont, dass man konservativ geschätzt habe, um mögliche Gesundheitsrisiken nicht zu unterschätzen. Auch sei zu bedenken, dass die benutzten Daten vorläufig seien und sich nur bis zum September 2011 erstrecken. Den Behörden werden die Schätzungen dennoch eine wichtige Hilfe sein, um bei der Gesundheitsüberwachung Prioritäten zu setzen, erkärte Neira.