Barcelona - Es lag ein Hauch von Ungeduld in der Luft bei der International Conference on Prehypertension and Cardiometabolic Syndrome 2013 in Barcelona. Denn die meisten Patienten, deren Blutdruck über den optimalen Werten liegt, entwickeln zwar mit der Zeit eine manifeste arterielle Hypertonie. Aber es mangelt nach wie vor an Studiendaten, wie dieser Entwicklung sinnvoll und wirksam vorgebeugt werden kann.
Das hinterlässt natürlich Unzufriedenheit. Einige der hier versammelten Experten wollen nicht mehr auf die Ergebnisse laufender klinischer Studien warten. Sie behandeln bereits jetzt ihre Hochrisikopatienten mit niedrig dosierten Antihypertensiva.
„Wenn wir warten, bis die Evidenz vorliegt, liegen wir längst unter der Erde” erklärt Dr. Flavio Fuchs (Hospital de Clinicas de Porto Alegre, Brasilien). Seine Argumente lauten: „Von fünf prähypertonen Patienten werden vier im Alter von 60 Jahren unter Hypertonie leiden... Meinen (prähypertonen) Patienten, die kurz vor der manifesten Hypertonie stehen, biete ich daher eine niedrig dosierte medikamentöse Therapie an.“
Dr. Stevo Julius (University of Michigan, Ann Arbor, USA) sagt es noch unverblümter: „Wenn mein Bruder prähyperton wäre, würde ich ihn selbstverständlich behandeln.”
Dr. Yuqing Zhang (Fu Wai Hospital, Beijing, China) dämpft das Vorpreschen ein wenig und weist darauf hin, dass es beim hoch-normalen Blutdruck nicht nur um die blutdrucksenkende Wirkung der Arzneimittel geht: „Wir müssen auch die Kosten-Nutzen-Rechnung aufmachen. Schwere Erkrankungsverläufe sind bei prähypertonen Patienten mit ca. 7 Prozent pro 100 Personenjahre selten. Dies liegt um ein Vielfaches unterhalb des Wertes für Patienten mit manifester Hypertonie. Hier benötigen wir dringend Antworten.”
Die CHINOM-Studie bietet einige Antworten
Zhang ist einer der Prüfärzte der größten, aktuell laufenden Studie zu diesem Thema: Die „Chinese High Normal Blood Pressure“-Studie CHINOM. Der Einschluss von 10.689 Patienten ist mittlerweile abgeschlossen; Einschlusskriterium war: ein Blutdruck zwischen 130 und139 mmHg sowie zwischen 85 und 89 mmHg plus mindestens ein weiterer kardiovaskulärer Risikofaktor (Ausschlusskriterien waren: manifester Diabetes, Nieren- oder Leberdysfunktion, Schlaganfall bzw. kardiovaskuläre Erkrankung).
Zhang präsentierte die Studie im Überblick. Die Patienten waren randomisiert einem von 3 Behandlungsarmen zugeteilt worden: Sie erhielten entweder Telmisartan 40 mg, oder Indapamid 1,5 mg oder in der dritten Gruppe ein Plazebo bzw. eine orale Kombination aus Hydrochlorothiazid 12,5 mg, Triamteren 12,5 mg, Dihydralazin 12,5 mg und Reserpin 0,1 mg.
Primärer Endpunkt der Studie ist die Kombination aus Schlaganfall, Myokardinfarkt oder kardiovaskulär bedingter Tod. Zu den sekundären Endpunkten gehören neu aufgetreten Hypertonie und Diabetes.
Es wird noch einige Jahre dauern, bis erste Ergebnisse vorliegen. Doch liefern schon die Ausgangsdaten der Probanden interessante Informationen. Laut Zhang hatten 70% der eingeschlossenen Patienten mehr als einen kardiovaskulären Risikofaktor. Ein metabolisches Syndrom war die häufigste Diagnose.
Mehr als Dreiviertel der Probanden waren übergewichtig bis fettleibig, 42% hatten erhöhte Triglyzeridwerte, mehr als ein Drittel eine positive Familienanamnese für Hypertonie. Zhang: „Das ist keine risikoarme Population.”
Ebenfalls bemerkenswert ist bei der CHINOM-Kohorte, so Zhang, dass Schlaganfälle in der Familienanamnese mehr als doppelt so häufig vorkamen als Myokardinfarkte (12% vs 5%). Die Prüfärzte haben eine Interimsanalyse vorgesehen, sobald die Zahl von 100 Ereignissen erreicht ist, derzeit sind es bereits knapp 90.
PREVER-Studie: Präventionsstudie in Brasilien
Fuchs ist der stellvertretende Hauptprüfer der PREVER-Studie. Die Probanden hier haben Blutdruckwerte zwischen 120 und 139 mmHg sowie 80 bis 89 mmHg. In seiner Präsentation der Studie räumte Fuchs ein, dass er von der langfristigen Wirksamkeit nicht-medikamentöser Interventionen bisher wenig überzeugt war.
Doch mittlerweile habe er seine Meinung revidiert: Eine Reihe neuer Studien – einschließlich einer seiner eigenen Gruppe - zeigten eine Senkung des systolischen Blutdrucks unter Salz- bzw. Kalorienrestriktion [1].
Er räumte ein, dass die „Prähypertonie” lediglich ein „Boxenstopp auf dem Weg zur Hypertonie“ sei und damit ein Behandlungsfenster, bevor es zu Organschäden kommt. Veränderungen der Lebensgewohnheiten reichten allein nicht immer aus.
Laut Angaben von Fuchs ist die Patientenrekrutierung in PREVER mit 1.053 Teilnehmern nun abgeschlossen. Dem Studiendesign entsprechend erhalten Patienten, die nach 3 Monaten trotz empfohlener Veränderungen des Lebensstils noch prähyperton sind, einer niedrig dosierte Kombination aus Chlorthalidon plus Amilorid oder Plazebo.
Erste vorläufige Studienergebnisse wiesen darauf hin, dass immerhin 659 (77%) der Probanden „prähyperton“ blieben und dem Studienprotokoll entsprechend randomisiert werden konnten; weitere 7,5% wiesen abnorme Laborwerte auf. 6,2% zeigten eine Progression zur manifesten Hypertonie, bei 9% fiel der Blutdruck auf Normalwerte zurück.
Wie Fuchs gegenüber dem Onlineportal für kardiologische News, heartwire, erklärte, befanden sich zu Studienbeginn manche Patienten wahrscheinlich an der Schwelle zwischen Prähypertonie und Hypertonie. Die endgültigen Studienergebnisse sind erst in mehreren Jahren zu erwarten.
Nur noch 10 Prozent Gesunde oder kranke Definition?
Julius, Moderator der Diskussion, hakte nach, in welcher Weise die Studieneinschlusskriterien verbessert werden könnten, um prähypertone Patienten einzubeziehen, die mit hoher Sicherheit von der medikamentösen Therapie profitieren. Auch die derzeit laufenden Studien hätten wohl keine ausreichende statistische Power, um klinische Effekte zu belegen, prognostizierte er.
Julius: „Würde man die Prähypertonie-Definition der JNC-7-Hypertonie-Richtlinien (JNC 7: Seventh Report of the Joint National Committee on Prevention, Detection, Evaluation, and Treatment of High Blood Pressure) unter Einbeziehung sämtlicher Hypertonie-Arten berücksichtigen, gälten nur noch 10% der männlichen Bevölkerung als ‚gesund’, und das ist völlig verrückt. Wir müssen die Population also nicht nur eingrenzen, sondern Tests entwickeln, um das Risiko für ein unerwünschtes Ereignis vorhersagen zu können. Ansonsten erfahren wir niemals die Wahrheit.”
„Die Dringlichkeit ist gegeben”, warnte Dr. Sverre Kjeldsen (Universitätsklinik Ullevål, Oslo, Norwegen). Denn die zu erwartenden 2013er Leitlinien von ESC/ESH konstatieren ausdrücklich, dass eine medikamentöse Behandlung von prähypertonen Patienten nicht gerechtfertigt sei. Dies soll selbst dann gelten, wenn bereits eine ventrikuläre Hypertrophie oder andere Organschädigungen vorliegen. Er stellte fest: „Keine Medikamente, da keine Evidenz. Aus diesem Grund müssen wir die Evidenz liefern."
Fuchs wies darauf hin, dass sich die meisten Schlaganfälle bei systolischen Blutdruckwerten zwischen 120 und 140 mmHg ereigneten. Für ihn sei dies Hinweis genug.
Gegenüber heartwire erläuterte Fuchs: „Ich selbst habe eine beträchtlich kardiovaskulär und Bluthochdruck-belastete Familienanamnese aus beiden Familienzweigen. Meine Lebensführung ist gesundheitsorientiert, ich bin nicht übergewichtig, betätige mich körperlich regelmäßig, beschränke meinen Salzkonsum und befolge die DASH-Diät. Trotzdem zeigte sich beim 24-Stunden-Blutdruckmonitoring, dass ich prähyperton bin, mit einem Wert von 135/80 mmHg. Ich habe nun mit sehr niedrigen Dosierungen (Wirkstoffkombination wie in der PREVER-Studie) begonnen und mein Blutdruck liegt bei 120/80 mmHg, wann immer ich ihn messe.”
Dieser Artikel wurde von Dr. Immo Fiebrig aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.