Kommt wirklich jeder vierte Kreuzbandriss ohne Operation aus?

Ute Eppinger | 14. Februar 2013

Autoren und Interessenskonflikte

Schnee wohin das Auge blickt und ein paar freie Tage rund um Fasching: „Ski heil“, wünscht man sich da, aber nicht immer geht es gut. Eine der häufigsten, schmerzhaftesten und vor allem langwierigsten Verletzungen bei Skifahrern ist  der Kreuzbandriss. Bislang gilt die Operation zwar als Standard. Ist sie aber tatsächlich immer notwendig?  

Nein – diesen Schluss lässt jedenfalls eine Studie von Prof. Dr. Robert Marx vom Hospital of Special Surgery (HSS) in New York zu. Den Ergebnissen zufolge heilt  bei 25% der Betroffenen das gerissene vordere Kreuzband (ACL) von selbst  zufriedenstellend aus,  das Knie bleibt stabil und die Beweglichkeit erhalten. Deutsche Experten sind da jedoch eher skeptisch.
Marx und sein Team haben in der Fachzeitschrift Knee Surgery, Sports Traumatology, Arthroscopy ihre Analysen publiziert [1].

Aus den Klinik-Unterlagen hatten die Autoren 63 Freizeit-Skisportler identifiziert, die von Studiensenior Marx innerhalb von 6 Wochen nach einer Verletzung des vorderen Kreuzbands im Zeitraum zwischen 2003 und 2008 behandelt worden waren. Davon hatten 34 Patienten eine frühe ACL-Rekonstruktion erhalten, die anderen 29 Patienten hingegen wurden beobachtet und nachuntersucht. Einschlusskriterien waren eine im MRT dokumentierte ACL-Ruptur und ein Mindest-Follow up von 2 Jahren, Ausschlusskriterium hingegen eine kontralaterale Kreuzband-Verletzung.

Lachman- und Subluxationstest als Prädiktoren

Mittels Lachman-Test und Subluxationstest hatten die Autoren die Patienten herausgefiltert, die für eine konservative Behandlung geeignet erschienen. Voraussetzung dafür war, dass der Subluxationstest 6 bis 12 Wochen nach Kreuzbandriss negativ war und im Lachman-Test allenfalls eine geringgradige Instabilität erkennbar war. 17 Patienten fielen in diese Kategorie, wovon 6 dann nicht am Follow-up teilnahmen.

Letztendlich verblieben 11 Patienten – leider ein ausgesprochen kleines Studienkollektiv. Das Durchschnittsalter der Patienten lag bei 43 Jahren, das mediane Follow-up bei 42 Monaten. Beim Recall absolvierten die Patienten eine unfallchirurgische Testbatterie, darunter den von Marx entwickelten Aktivitätsscore, den Tegner-Aktivitäts-Score (TAS), den IKDC-Score und das KT-1000 Arthrometer.

Das arithmetische Mittel des IKDC-Scores beim letzten Follow up lag bei 91,6 ± 6,7. Der TAS lag bei 6, der Marx-Score bei 4 (p= 0,03). 10 Patienten wiesen einen Lachman-Grad von 0 bis +1 auf, ein Patient einen Grad von +2. Der KT-1000 zeigte eine Seite-zu-Seite Differenz von 0,8 ± 1,6 mm und weniger als 3 mm Differenz bei den 10 Patienten mit Lachman-Grad 0 bis +1.

Lieber noch mal begutachten statt gleich zu operieren?

Freizeit-Skisportler mit Kreuzbandriss sollten 6 bis 12 Wochen nach dem Schaden eher noch mal begutachtet werden, statt sie akut zu operieren, schlussfolgern die Autoren. Und fahren fort: „Geben zu diesem Zeitpunkt der Lachman-Test und der Subluxationstest Entwarnung, können die Patienten konservativ behandelt werden, weil 2 Jahre nach Verletzung ein gutes Endergebnis und eine gute Knie-Beweglichkeit erwartet werden kann.“

Marx weiter: „Für Leute, die 40 Jahre oder älter sind und wenig Muskelmasse aufweisen, dauert die Rekonvaleszenz nach ACL-Operation lange, manchmal sogar 1 Jahr“. Diesen Zeitraum müsse man mit den 12 Wochen in Beziehung setzen. Schließlich sei es keine Kleinigkeit, eine Operation vermeiden zu können. Neben der verkürzten Rekonvaleszenz der Patienten reduziere eine konservative Behandlung nicht zuletzt die medizinischen Kosten.

Und wie sieht‘s mit dem Langzeiterfolg aus?

Skeptisch, vor allem hinsichtlich der Langzeitprognose, zeigt sich aber Prof. Dr. med Karl-Heinz Frosch, Chefarzt der Unfallchirurgie der Asklepios-Klinik St. Georg in Hamburg und langjähriges Mitglied der Gesellschaft für Unfallchirurgie. Frosch, Experte für Kniegelenksverletzungen, hat gleich mehrere Einwände:

„Das fängt bei der Nachuntersuchungszeit an, es heißt ‚noch nach 2 Jahren sei das Knie stabil‘, doch das ist noch keine Zeit, auch nach 10 Jahren kommen immer wieder Patienten; die einen Kreuzbandriss hatten und seinerzeit konservativ behandelt wurden und klagen über Probleme“, stellt Frosch klar. Oft sei dann längst der Meniskus in Mitleidenschaft gezogen.

Das in der Studie von Marx und seinem Team nachuntersuchte älteste Kreuzband sei 6 oder 7 Jahre alt, das aber sei noch kein wirklich relevanter Zeitraum, warnt Frosch: „Jede Wette, von den konservativ Behandelten kommen noch einige Leute Jahre später in Praxis, spätestens dann, wenn der Muskelaufbau abnimmt und so die muskuläre Stützfunktion geringer wird“.

Hinzu kommt: Nach konservativer Therapie liege das Arthrose-Risiko nach 20 Jahren deutlich höher (60 - 100%) als nach zeitnaher ACL-Operation (14 – 36%). Auch Kinder, so Frosch, kämen mit konservativer Therapie oft langfristig nicht klar. Werde eine vordere Kreuzbandruptur bei Kindern konservativ behandelt, entwickle sich in über 90 % der Fälle eine Instabilität des Kniegelenks:

„Die Kinder knicken einfach immer wieder weg und langfristig drohen degenerative Meniskus- und Knorpelschäden“, verweist Frosch auf eine deutsche Publikation, in der im Rahmen einer Meta-Analyse die konservative Behandlung und die ACL-OP an über 1.000 Kindern miteinander verglichen wurden [2].

Untersuchte Klientel war nicht repräsentativ

Auch das Untersuchungsalter – im Durchschnitt 43 Jahre – hält Frosch für wenig aussagekräftig. „Die ganzen großen relevanten Studien untersuchen 27 bis 30 Jahre alte Patienten, die Kreuzband-Rupturen aufweisen. Das ist auch das typische Alter“. Ein Durchschnittsalter von 43 Jahren sei hingegen eher ungewöhnlich – und damit weniger aussagekräftig.

Und dass die Patienten laut Publikation beim „recreational skiing“ verunglückt waren, spreche außerdem dafür, dass das Untersuchungskollektiv wohl nicht sehr sportlich anspruchsvoll gefahren sei  –  was sich wiederum auf die Schwere der Verletzung ausgewirkt haben dürfte.  

Uns schließlich gelte es zu bedenken: Beim Hospital for Special Surgery in New York handele es sich um eine medizinisch sehr gute und sehr teure Klinik mit Prominentenstatus: „Das ist mit einer klassischen Notfallklinik oder mit einer Unfallambulanz in Skigebieten überhaupt nicht zu vergleichen“, stellt Frosch klar. Insofern war nämlich die untersuchte Klientel schon vorselektiert, etwas älter und die Verletzungen der Bänder waren wohl nicht so gravierend.

Für die von vorneherein milderen Verletzungen spräche auch die lange Wartezeit bis zur Behandlung. Zudem macht es das sehr übersichtliche Patientenkollektiv nicht leicht, der Studie  große Aussagekraft zuzusprechen. „Bedenkt man das alles, dann tut sich diese Studie mit Allgemeingültigkeit schon ganz schön schwer“, erklärt Frosch.

Referenzen

Referenzen

  1. Hetsroni I, et al: Knee Surgery, Sports Traumatology, Arthroscopy (online) 19. November 2012
    http://dx.doi.org/10.1007/s00167-012-2324-8
  2. Preiss A, et al: Der Unfallchirurg. 2012, 115: 848-854.
    http://dx.doi.org/10.1007/s00113-012-2215-y

Autoren und Interessenskonflikte

Ute Eppinger
Es liegen keine Interessenkonflikte vor

Es liegen keine Erklärungen zu Interessenkonflikten vor.

Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.