Aktuelle Ergebnisse der italienischen Langzeitstudie HARVEST (Hypertension and Ambulatory Recording Venetia Study) liefern neue Erkenntnisse zu einer Bevölkerungsgruppe, die bislang in Hochdruckstudien keine Beachtung fand: Menschen, die normoton sind.
Prof. Dr. Paolo Palatini, Department of Clinical and Experimental Medicine, University of Padova/Italy, berichtete anlässlich der diesjährigen 2nd International Conference on PreHypertension and CardioMetabolic Syndrome in Barcelona, dass die Ergebnisse durchaus Implikationen für die Leitlinien zur Behandlung der arteriellen Hypertonie haben [1].
Bisher wird meist empfohlen, mit dem Medikationsbeginn bei leichter Hypertonie Grad 1 (140-159 mmHg systolisch/90-99 mmHg diastolisch) einige Monate zu warten, wobei der genaue Zeitraum nicht klar definiert ist.
„Der Zeitpunkt für einen Therapiebeginn ist immer noch umstritten“, so Palatini. Die Leitlinien der Europäischen Gesellschaften für Kardiologie und für Hypertonie ESC/ESH von 2007 empfehlen, den Therapiebeginn bei Hypertonie Grad 1 ohne weitere Risikofaktoren „um mehrere Monate hinauszuzögern“. In den Leitlinien von 2009 heißt es, die medikamentöse Behandlung solle nach „einer geeigneten Dauer“ einsetzen, wenn der Blutdruck trotz angepasster Lebensweise bei >140/90 mm/Hg liegt. „Es ist schwierig, diese Dauer genau zu definieren.“
Palatini stellte Daten von 198 Erwachsenen (durchschnittliches Alter: 33 Jahre) mit mildem Hochdruck vor, deren Werte sich innerhalb der ersten 3 Monate nach Studienbeginn wieder normalisiert hatten. Sie schafften es auch, im Nachbeobachtungszeitraum von 15 Jahren normoton zu bleiben. Die Vergleichsgruppe bestand aus 822 Patienten, deren Blutdruck langfristig hoch blieb.
Die Gruppe der normotonen Patienten unterschied sich bei Studieneintritt signifikant von der Kontrollgruppe durch einen etwas niedrigeren BMI, geringeren Kaffeekonsum und mehr Sport. Palatini: „Sie hatten insgesamt ein günstigeres metabolisches Profil.“
Auch 15 Jahre später noch normoton
Während des Follow-up blieb in der normotonen Gruppe der mittlere systolische 24-Stunden-Blutdruck relativ stabil, die Herzfrequenz sank signifikant, der BMI erhöhte sich um weniger als 0,05 kg/m2.
In der Hochdruck-Gruppe stieg der Blutdruck laut Palatini „erheblich“ um rund 8 mmHg, die Herzfrequenz blieb weitgehend gleich, der BMI erhöhte sich um jährlich 0,16 kg/m2 und es entwickelten im Vergleich fast doppelt so viele Teilnehmer einen Prädiabetes.
In beiden Gruppen nahm der Konsum von Kaffee und Alkohol über die Jahre ab, in der normotonen Gruppe jedoch stärker. Überraschend war, dass die normontonen Teilnehmer ihre Lebensweise als „zunehmend träge“ beschrieben. Eine mögliche Erklärung: Sie waren bei Studienbeginn ohnehin schon sportlich aktiver. Eine anderer denkbarer Grund: Bei Hochdruckpatienten drängen Ärzte schneller zu mehr körperlicher Aktivität.
Nach 15 Jahren hatten die Befunde deutliche gesundheitliche Auswirkungen: Hypertone Patienten litten häufiger an linksventrikulärer Hypertrophie, Mikroalbuminurie und Vorhofflimmern. In der normotonen Gruppe gab es über die gesamte Studiendauer kein einziges kardiovaskuläres Ereignis, in der hypertonen Gruppe dagegen bei 55 Teilnehmern (p<0,001).
Da es an Daten mangelt, aus denen sich Empfehlungen für Patienten mit einer Grad-1-Hypertonie ableiten lassen, könnte nach Ansicht Palatinis die aktuelle Analyse den Autoren von Leitlinien nun einiges Material liefern: „Mit Blick auf unsere Ergebnisse können wir davon ausgehen, dass der Zeitraum bis zu einem medikamentösen Therapiebeginn viel länger sein kann als erwartet."
Eine einzige Variable, die alles erklärt, gibt es nicht
Ursprünglich sollte in HARVEST nach typischen Merkmalen von leicht hypertonen Patienten gesucht werden, die in einem 6-Jahres-Follow-up einen dauerhaften Hochdruck oder eine Weißkittelhypertonie entwickeln oder eine maskierte Hypertonie, die bei Praxismessungen nicht aufgedeckt wird.
In einem Gespräch mit heartwire erläuterte Palatini, dass die anfängliche Blutdrucksenkung in der normotonen Gruppe teilweise mit dem höheren Anteil an Weißkittelhypertonikern zusammenhängt. „Es ist außerdem wahrscheinlich, dass Teilnehmer in einer besonderen Lebenssituation waren und berufliche oder private Probleme – auf jeden Fall Stress – hatten, das können wir kaum messen."
Wahrscheinlich ist ferner, dass eine unterschiedliche Sympathikusaktivität oder genetische Hintergründe eine Rolle spielten, aber auch die wurden nicht in der Studie erfasst. Allerdings wies Palatini darauf hin, dass beispielsweise in der normotonen Gruppe weniger Teilnehmer mit einem Insulinresistenzsyndrom waren: „Ein prädiabetisches Profil hängt aber mit der Sympathikusaktivität zusammen.“
Vermutlich, so betonte Palatini, bleibe es weiterhin ein komplexes Geheimnis, wie sich Hochdruck vermeiden lässt. „Natürlich würden wir gern eine einzige Variable finden, die alles erklärt. Stattdessen müssen wir viele Variablen auf einmal betrachten. Es ist wie ein Mosaik. Es wäre naiv zu glauben, es könnte eine abgrenzbare Variable geben, sodass man nur verschiedene Faktoren zusammenführen müsste – Natriumausscheidung, Reninaktivität und so weiter. Einige haben wir getestet, aber tatsächlich müssten wir alle testen."
In der abschließenden Podiumsdiskussion stimmte ihm Dr. Stevo Julius, Division of Cardiovascular Medicine, Internal Medicine and Physiology, University of Michigan, Ann Arbor, zu: „Ich halte es für genauso wichtig oder sogar noch wichtiger, die Gruppe derer zu ermitteln, die keinen Bluthochdruck entwickeln, und sie genau unter die Lupe zu nehmen, anstatt nur die Hypertoniker zu betrachten. Mit der Informationsgrundlage könnten wir sogar einen Mehrwert für Kliniker schaffen, da sie sich dann auf die Patienten mit dem höheren Risiko konzentrieren können."
Dieser Artikel wurde von Andrea Thode aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.