Wollen wir einfach nur 100 Jahre alt werden oder wollen wir 100 Jahre alt werden und noch rege und fit sein? Konzentriert sich die Forschung zu sehr auf die reine Lebenszeit und zu wenig darauf, wie gesund wir diese zusätzlichen Jahre verbringen, wie John Appleby jetzt im British Medical Journal schrieb [1].
Medscape Deutschland sprach mit Prof. Dr. Gabriele Doblhammer-Reiter, Lehrstuhlinhaberin für Empirische Sozialforschung und Demographie an der Universität Rostock und Leiterin des Nationalen Demenzregisters am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Bonn.

Medscape Deutschland: Ab wann gilt ein Mensch eigentlich als „alt“?
Prof. Doblhammer-Reiter: Konventionell verwendet man starre Altersgrenzen vom Zeitpunkt der Geburt an gerechnet, heute diskutiert die Wissenschaft jedoch neue Konzepte. Eine Möglichkeit: Wie viele Lebensjahre hat man ab einem bestimmten Alter noch zu leben? Als Altersgrenze könnte man nun jenes Alter nehmen, in dem im Durchschnitt noch 15 Lebensjahre bis zum Tod verbleiben.
Durch den Anstieg der Lebenserwartung hat sich diese Grenze im Laufe der Zeit kontinuierlich erhöht. 1990 lag demnach der Alterseintritt für Frauen in Deutschland bei 68 Jahren, 2008 bei 71 Jahren und 2010 bei 72 Jahren. Ab diesem Alter kommen dann im Durchschnitt noch 15 Lebensjahre dazu.
Medscape Deutschland: Und wie alt können wir noch werden? Gibt es da eine natürliche Grenze?
Prof. Doblhammer-Reiter: Einige Wissenschaftler glauben, dass wir 120 Jahre alt werden können. Der amerikanische Gerontologe und Zellforscher Leonard Hayflick hat bereits vor einem halben Jahrhundert widerlegt, dass Zellen unsterblich sind und gezeigt, dass sich menschliche Zellen maximal 50-mal teilen können. Andere Wissenschafter gehen jedoch davon aus, dass das Limit der Lebensspanne weitaus höher ist.
Medscape Deutschland: Langes Leben – wird der Fokus nicht zu sehr auf die reine Länge und zu wenig auf die Lebensqualität gelegt?
Prof. Doblhammer-Reiter: Ich sehe das nicht so, das sind zwei sehr unterschiedliche Forschungsrichtungen. Einmal nimmt die Zahl der Hundertjährigen und älteren Personen stark zu, und es ist wichtig, diesen Trend zu untersuchen und Ursachen zu erforschen. Doch nicht alle Jahre, die wir dazu bekommen, sind gesunde Jahre.
Appleby beschreibt, dass die Lebenserwartung bei Geburt für Frauen seit 1990 um 4,6% gestiegen ist, die Lebenserwartung in Gesundheit im gleichen Zeitraum aber nur um 3%. Für Deutschland liegen Zahlen für 60-jährige Frauen seit dem Jahre 1999 vor: Der Anstieg der verbleibenden Lebenserwartung liegt dabei bei 5,9%, der der gesunden Lebenserwartung ohne Pflegebedarf jedoch nur bei 4,9%.
Ein großer Teil der Jahre, die wir im Alter hinzu bekommen haben, sind gesunde Lebensjahre. Aber klar ist auch – wir bekommen beides: gesunde und kranke Jahre.
Medscape Deutschland: Wie wird sich die Bevölkerung weiter entwickeln?
Prof. Doblhammer-Reiter: Durch die steigende Lebenserwartung und die geringe Fertilität – also die seit den 70er-Jahren langfristig niedrige Geburtenrate – wird es im Verhältnis immer mehr Alte in Deutschland geben. Weder eine kurzfristig erhöhte Fertilität, noch eine steigende Zuwanderung können diese Verschiebung der Altersstruktur aufheben. Eine größere Herausforderung als die Schrumpfung der Bevölkerung ist diese Verschiebung der Altersstruktur.
Medscape Deutschland: Wie verkraften die Sozialsysteme eine immer älter werdende Bevölkerung?
Prof. Doblhammer-Reiter: Es ist klar, dass es bei den Renten, der medizinischen Versorgung und bei der Pflege Änderungen geben muss. Diese Anpassung ist ein schrittweiser Prozess. Seit 10 Jahren setzt man sich mit dem Thema ernsthaft auseinander. Die Änderungen sind auch nicht immer erfreulich. Das Rentenalter ist ja schon erhöht worden, die Renten werden niedriger sein. Das wird sich fortsetzen.
Und eine längere Lebensarbeitszeit wird und muss kommen. Zum einen, weil man sonst fragen muss ‚Wer soll das Rentensystem noch bezahlen?‘. Und es stellt sich die Frage, was die Menschen mit der ganzen Zeit anfangen sollen, in der sie nicht mehr erwerbstätig sind. Wir werden also neue Strukturen schaffen und Arbeit umsortieren müssen.
Medscape Deutschland: Erleben Sie die Reaktionen auf das Thema „alternde Gesellschaft“ als angstbesetzt?
Prof. Doblhammer-Reiter: Angstbesetzte Reaktionen erlebe ich nicht, es findet viel Auseinandersetzung mit dem Thema statt. Jeder sieht darin einen großen Vorteil: Ich lebe länger und ich lebe länger gesund. Jeder sieht aber auch, was das für eine Belastung für die eigenen Kinder sein wird.
Medscape Deutschland: Welchen Einfluss hat die stetige Zunahme von Diabetes und Adipositas gerade unter jungen Menschen auf die längere Lebenserwartung?
Prof. Doblhammer-Reiter: Diabetes und Adipositas sind stark miteinander verknüpft, ob das allerdings Auswirkungen auf die reine Lebenserwartung haben wird, ist nicht klar. Nehmen Sie das Beispiel Rauchen, die weltweite Rauchpandemie des letzten Jahrhunderts ging mit einer kontinuierlich steigenden Lebenserwartung einher.
Auf der anderen Seite ist natürlich klar, dass Diabetes und Adipositas sich auf die Gesundheit auswirken werden. Auf die Zahl der gesunden Jahre wird sich Adipositas sicher negativ auswirken und damit dann eventuell doch wieder auf die Lebenserwartung. Allerdings liefern Studien keine eindeutigen Aussagen dazu.
Medscape Deutschland: Stichwort Demenz – unter den 90-Jährigen ist etwa jede dritte Frau und jeder vierte Mann an Demenz erkrankt. Bis zum Jahr 2050 wird sich wegen der immer älter werdenden Bevölkerung deshalb voraussichtlich die Zahl der Demenzerkrankten mehr als verdoppeln. Was bedeutet das?
Prof. Doblhammer-Reiter: Demenz ist sicherlich eine der großen Herausforderungen für die nächste Zeit. Die Zahl der zukünftigen Demenzkranken wird vor allem durch den Anstieg der Lebenserwartung bestimmt. Hinzu kommt der Effekt der Babyboomer: Wenn diese in das potenzielle Erkrankungsalter kommen, etwa um 2035, mit 85 Jahren, steigen die Demenzfälle stark an.
Der Pflegebedarf wird enorm hoch sein und dadurch die Pflegekosten. Immerhin haben wir jetzt angefangen, Demenz in der Gesetzlichen Pflegeversicherung zu berücksichtigen. Da muss man sich noch ganz viel überlegen, wie der Pflegebegriff neu definiert wird und die Pflege Demenzkranker adäquat unterstützt wird.
Medscape Deutschland: Wie schätzen Sie die Kosten ein, die allein durch die Zunahme von Demenz entstehen?
Prof. Doblhammer-Reiter: Ein Großteil der Demenzkranken wird zuhause gepflegt, also durch informelle Pflege. Die Kosten der Demenz sind schwer zu fassen, Studien zeigen, dass eine leichte Demenz pro Jahr in etwa10.000 Euro an Kosten der medizinischen Versorgung und Pflege ausmacht, eine schwere Demenz hingegen wird mit 40.000 bis 50.000 Euro veranschlagt.
Der größte Teil der Kosten wird dabei durch die Familien im Rahmen der informellen Pflege getragen. Stellt man sich nun vor, dass Familienverbunde nicht mehr so fest sind, oder Töchter oder Schwiegertöchter berufstätig sind und die Eltern nicht pflegen können, die informelle Pflege also abnimmt, dann wird die Situation sehr schwierig werden.
Medscape Deutschland: Mit dem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken. Wie beurteilen Sie den Einfluss auf die Lebenserwartung und Lebensqualität?
Prof. Doblhammer-Reiter: Durch die großen Fortschritte bei der Bekämpfung von Herz-Kreislauferkrankungen wird in wenigen Jahren Krebs die Todesursache Nummer eins sein. Wenn es also gelänge, Krebs noch besser als bisher zu heilen, dann würde die Lebenserwartung noch stärker steigen.
Es sind allerdings eher die Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schlaganfälle, die sich auf die Lebensqualität und den langfristigen Pflegebedarf auswirken als das bei Krebs der Fall ist. Die Deutschen sterben heute nur noch halb so oft an Herzerkrankungen wie vor 30 Jahren. Fortschritte gibt es auch beim Krebs, doch der Rückgang ist nicht so stark. Rund ein Viertel aller Deutschen stirbt an einem Krebsleiden.
Medscape Deutschland: Welchen Einfluss hat die soziale Ungleichheit auf die Lebenserwartung?
Prof. Doblhammer-Reiter: Nach Bildungsgruppen gemessen führt soziale Ungleichheit zu Unterschieden in der Lebenserwartung von zwischen 6 und 8 Jahren. Ein niedrigerer Bildungsstand ist mit einer geringeren Lebenserwartung verbunden. Die Unterschiede zwischen den Bildungsgruppen werden immer größer, da in den hohen sozialen Schichten die Lebenserwartung stärker ansteigt als in den niedrigeren.
Medscape Deutschland: Welche Faktoren beeinflussen die Langlebigkeit positiv?
Prof. Doblhammer-Reiter: Die alt bekannten, also: Lebensstil, Nichtrauchen, Sport und Bewegung, geistige Betätigung, Ernährung und sozioökonomischer Status. Aber ob man 100 oder 110 wird, da spielen dann auch genetische Faktoren eine Rolle. Ab 85 steigt das Risiko, pflegebedürftig zu werden, exponentiell an.
Medscape Deutschland: Sie sagen, eine längere Lebensarbeitszeit wird unumgänglich. Doch wie praktikabel ist das. Kann man mit 70 noch am Bau arbeiten?
Prof. Doblhammer-Reiter: Ja, das Rentenalter wird steigen, und es ist klar, dass sich die Arbeitsinhalte und auch die Arbeitsplätze ändern müssen. Ältere Menschen sind zwar weniger produktiv, was Kraft und Schnelligkeit angeht, doch sie haben mehr Erfahrung, sind weniger auf Karriere und auf Eigennutz bedacht.
Altersgemischte Strukturen in Firmen wären deshalb ideal. Bei Firmen kommt das immer besser an, und man versucht zunehmend ältere Mitarbeiter zu halten, um die Produktivität aufrecht zu halten.
Medscape Deutschland: Möchten Sie selbst denn gerne 100 Jahre alt werden?
Prof. Doblhammer-Reiter: Ja, wenn ich geistig gut beieinander bin, würde ich das schon gerne erleben.