Zwischen Bipolarer Störung und ADHS: Das DSM-5 wartet mit neuer Diagnose auf

Ute Eppinger | 29. Januar 2013

Autoren und Interessenskonflikte

Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM), das Handbuch der American Psychiatric Association (APA) zur Klassifikation psychiatrischer Erkrankungen, wird seit einigen Jahren in einer aufwendigen, rund 25 Millionen US-Dollar teuren Revision überarbeitet [1]. Version 5 wird im Mai 2013 beim Jahreskongress der APA offiziell vorgestellt.

Rund 500 Psychologen und Psychiater haben auch daran mitgewirkt, neue Kategorien und Diagnosen zu implementieren, die z. B. bestimmte Symptomatiken schärfer gegen Fehldiagnosen abgrenzen und somit eine größere diagnostische Exaktheit schaffen sollen. Die Ergebnisse wirken in der Fachwelt gelegentlich zumindest kurios und werden entsprechend kontrovers diskutiert. Auch die Neudiagnose Disruptive Mood Dysregulation Disorder (DMDD) hat zahlreiche Skeptiker auf den Plan gerufen.

DMDD ist die diagnostische Einordnung für hoch impulsive und emotional dysregulierte – also extrem schwierige – Kinder unter 10 Jahren. Erfasst werden sollen die stark schwankenden Symptome der schweren Wutausbrüche und des depressiven Rückzugs. Der Begriff wurde aus der Diagnose Severe Mood Dysregulation (SMD) entwickelt, die eine Art von Hypomanie bzw. Manie beschreibt, die ständig vorhanden ist und nicht in klar abgrenzbaren Episoden zur Depression auftritt.

Zwischen Bipolarer Störung und ADHS

Dennoch werden in den USA die betroffenen Kinder bislang meist als bipolar diagnostiziert. Wie stark sich der Umstand auch in der Forschung niedergeschlagen hat, zeigen Prof. Dr. med. Florian Daniel Zepf, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der RWTH Aachen und Prof. Dr. med. Martin Holtmann, Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie & Psychosomatik der LWL-Universitätsklinik Hamm der Ruhr-Universität Bochum, im e-Textbook of Child and Adolescent Mental Health [2]. Demnach wurden allein im Januar 2008 mehr wissenschaftliche Artikel zur bipolaren Störung bei Kindern publiziert als zwischen 1986 und 1996 zusammen.

„In Europa wird die beschriebene Symptomatik bisher in aller Regel einer ADHS mit Störung des Sozialverhaltens zugeordnet“, sagt Dr. med. Yvonne Grimmer, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, auf Anfrage von Medscape Deutschland. Seit Jahren bestehe eine intensive transatlantische Diskussion bezüglich der diagnostischen Einordnung der Kinder.

Die deutsche Fachwelt hat den Begriff „affektive Dysregulation“ entwickelt. Es wird geschätzt, dass 20% aller ADHS-Patienten eigentlich dieser Gruppe angehören.

Entsprechend unterschiedlich fällt bisher auch die Therapie aus: Bekannte Pharmaka, die bei AHDS eingesetzt werden, führen auch zu einer deutlichen Reduktion disruptiver Verhaltensweisen und folglich zur Affektregulation, so Grimmer. „Allerdings sind in den USA häufig verwendete Stimmungsstabilisierer wie Lithium bei uns eher Ausnahmen.“

Für die DMDD kann es noch keine spezifischen Psychotherapiemanuale geben. „Man orientiert sich bislang eher an Bausteinen vorhandener Therapieverfahren, beispielsweise aus den Programmen für Kinder mit ADHS oder aus der dialektisch-behavioralen Therapie mit Unterteilen zur Affektregulation“, sagt Grimmer.

Kreation einer weiteren Modekrankheit ...

Die Kategorisierung im DSM-5 soll jetzt Klarheit schaffen und gleichzeitig die Diagnose der bipolaren Erkrankung in den USA eindämmen. Allerdings hält der Psychiater Dr. Allen Frances, emeritierter Professor an der Duke University School of Medicine, Durham, North Carolina und Chair der DSM-IV Task Force, die Aufnahme der neuen Diagnose ins aktuelle Manual für verfehlt. Üblicherweise dauere es viele Jahre und unzählige Studien, bis es eine psychiatrische Erkrankung als offizielle Diagnose ins DSM schaffe, für die DMDD scheinen andere Bedingungen zu gelten: „Es gibt keine DMDD-Forschung, die Symptome sind nur von einer Studiengruppe beobachtet worden und das auch nur für einen Zeitraum von sechs Jahren”, schrieb er 2012 in Psychology Today [2].

Laut Frances kreiert das DSM-Komitee eine weitere Modekrankheit, in deren Rahmen noch mehr Kinder als krank eingestuft und zu schnell und zu oft mit Pillen ruhig gestellt würden.

Die LAMS-Studie (Longitudinal Assessment of Manic Symptoms) ebenfalls aus dem Jahr 2012 nährte die Bedenken: Bei 706 Kindern zwischen 6 und 12 Jahren passte DMDD auf jedes 4. Kind, die Diagnose war jedoch nicht stabil. In einem Zeitraum von 2 Jahren entsprachen die Kinder mal dem Krankheitsbild, bei der nächsten Untersuchung dann wieder nicht [3].

... oder klare Abgrenzung zur Bipolaren Störung?

„Wir erachten die bisherigen Forschungsergebnisse als ausreichend“, begrüßt hingegen Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Tobias Banaschewski, Ärztlicher Direktor der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, die DMDD-Aufnahme ins DSM-5 im Gespräch mit Medscape Deutschland. Aufgrund der intensiven Diskussion zur Bipolaren Störung im Kindesalter hätten sich bisher zahlreiche Forschergruppen weltweit mit der Thematik beschäftigt.

„Es hat sich ein psychometrisches Risikoprofil herauskristallisiert, das ungefähr den Kriterien der DMDD entspricht und unter der Severe Mood Dysregulation bezüglich Ursachen, Diagnosekriterien, Abgrenzung zu Bipolaren Störungen, Therapiemöglichkeiten und Verlauf im Erwachsenenalter untersucht wurde“, stellt Banaschewski fest.

Gemäß epidemiologischer Studien leiden ca. 3% der 9- bis 19-Jährigen unter einer SMD. Studien zum psychometrischen Profil über die Child Behaviour Checklist ergaben Häufigkeiten von 6-7% in Kinder- und Jugendpsychiatrischen Stichproben und 13-20 % in Stichproben bei ADHS-Kindern.

„Wir sind bei der Schaffung neuer Kategorien eher vorsichtig, hoffen aber in diesem Fall auf eine Klärung diagnostischer Unsicherheiten“, so Banaschewski. Erfreulich sei, dass nun die klare Abgrenzung zur Bipolaren Störung erfolge. „Longitudinale Studien im Erwachsenenalter haben keine erhöhte Häufigkeit Bipolarer Störungen im engeren Sinne erkennen lassen, sondern vielmehr einen Übergang in Angststörungen und unipolare Depressionen im späteren Lebensalter.” Die Einordnung von DMDD zu den Depressionen trage dem Umstand Rechnung. Allerdings komme die häufig komorbide ADHS-Symptomatik etwas zu kurz.

Dennoch erwartet Banaschewski mehr Behandlungssicherheit: „Viele wirksame therapeutische Ansätze werden derzeit schon erfolgreich angewandt, die meisten beziehen sich auf die disruptive Symptomatik. Positiv wäre, wenn den Kindern von Anfang an mehr Programme zugute kämen, die gezielt die affektive Dysregulation behandeln“, erläutert er.

Die Gefahr einer Modediagnose sieht Banaschewski nicht: „Nein, möglich wird eher eine genauere diagnostische Zuordnung von Kindern, die sowohl externalisierende Verhaltensweisen als auch ausgeprägte Wutausbrüche und gleichzeitig emotionale Labilität zeigen. Die Diagnose werden eher schwerer betroffene Kinder erhalten, die einen intensiven Hilfebedarf in allen Lebensbereichen haben.”

Man darf gespannt sein, welche Einfluss das DSM-5 auf die Revision der ICD-11 haben wird, die 2015 erscheinen wird.

Referenzen

Referenzen

  1.  http://www.dsm5.org
  2. 2. Zepf FD und Holtmann M: Disruptive Mood Dysregulation Disorder; Mood Disorders, Chapter E.3. In: Rey JM (ed), IACAPAP e-Textbook of Child and Adolescent Mental Health. Geneva 2012.
    http://iacapap.org/wp-content/uploads/E.3-MOOD-DYSREGULATION-072012.pdf
  3. 3. „Wonderful News: DSM-5 Finally Begins Its Belated And Necessary Retreat“; A. Frances, Psychology today, 2. Mai 2012.
    http://www.psychologytoday.com/blog/dsm5-in-distress/201205/wonderful-news-dsm-5-finally-begins-its-belated-and-necessary-retreat
  4. 4. Axelson D et al. J Clin Psychiatry. 2012: 73 (10), 1342-50.
    http://dx.doi.org/10.4088/JCP.12m07674

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