Berlin – Die deutsche S3-Leitlinie zur Behandlung des Prostatakarzinoms empfiehlt beim Niedrigrisiko-Karzinom, den Patienten über die 4 Behandlungsstrategien Radikale Prostatektomie, Perkutane Strahlentherapie, Brachytherapie (Permanente Seedimplantation) und Aktive Beobachtung bzw. Active Surveillance aufzuklären. Schlussendlich bleibt es dem Patienten überlassen, für welche Strategie er sich „intuitiv“ entscheidet, da es keine harten Vergleichsdaten gibt.
„Mit dieser Empfehlung wird ein wenig der Eindruck erweckt, wir wüssten, dass die völlig unterschiedlichen Behandlungsansätze hinsichtlich der Tumorkontrolle gleichwertig sind. Das trifft definitiv nicht zu: Wir wissen lediglich, dass jedes dieser Konzepte prinzipiell in der Lage ist, einem Großteil der Patienten den Tod am Prostatakarzinom zu ersparen. Es gibt aber keine beweiskräftigen Daten, ob eine dieser Alternativen bezüglich der Tumorkontrolle einer der anderen überlegen, unterlegen oder tatsächlich gleichwertig ist.“ Für eine solche, das gesamte Fach der Uro-Onkologie betreffende Selbstkritik von Prof. Dr. med. Michael Stöckle, Direktor der Klinik für Urologie und Kinderurologie des Universitätsklinikums des Saarlandes, gibt es einen Grund:
Stöckle ist einer der beiden Leiter des nach eigenen Worten größten urologischen Forschungsprojekts der letzten 50 Jahre in Deutschland, der PREFERE-Studie, die am 22. Januar 2013 in Berlin offiziell gestartet wurde. PREFERE steht für Präferenzbasierte Randomisierte Studie zur Evaluation von vier Behandlungsmodalitäten bei Prostatakarzinom mit niedrigem und frühem intermediären Risiko. Erstmals werden die beim meist lokal begrenzten Tumor übliche Radiotherapie, Brachytherapie und Active Surveillance im Vergleich zur Radikalen Prostatektomie randomisiert, kontrolliert und prospektiv auf ihre Effektivität überprüft – mit dem Ziel, den Betroffenen nicht länger 4 denkbare Alternativen, sondern ein einziges individuell bestes und klar belegtes Behandlungskonzept anbieten zu können.
7.600 Patienten, 1.000 niedergelassene Urologen und Strahlentherapeuten, 90 Prüfzentren
Zu dem Zweck werden in den kommenden 4 Jahren bundesweit rund 7.600 Patienten aufgenommen, das Follow-up für jeden Patienten beträgt mindestens 13 Jahre. Studienende ist 2030. Rund 1.000 niedergelassene Urologen und Strahlentherapeuten sowie mindestens 90 Prüfzentren werden sich beteiligen.
Prospektiv-randomisierte Studien beim Prostatakarzinom haben in Deutschland bisher wenig Tradition. „Ein wichtiges Merkmal der Studie ist deshalb die Qualitätssicherung, mit der dafür Sorge getragen wird, dass bundesweit höchste Qualitätsstandards für die Therapie eingehalten werden“, sagte der zweite Studienleiter, Prof. Dr. med. Thomas Wiegel, Direktor der Klinik für Strahlentherapie und Radioonkologie des Universitätsklinikums Ulm.
Vor Aufnahme der Patienten in die Studie wird durch spezialisierte Referenzpathologen überprüft, ob die Diagnose korrekt gestellt wurde. Der Qualitätsstandard für die teilnehmenden Zentren und dort arbeitenden Therapeuten wurde von Experten in einem Studienprotokoll festgelegt. Studienbegleitend erfolgt eine präzise definierte stichprobenartige Qualitätssicherung der Therapien. „So besteht während der gesamten Rekrutierungszeit die Möglichkeit einer kontinuierlichen Qualitätssicherung, und, wenn notwendig, die einer Verbesserung der Therapiequalität. Die durch die Prüfzentren erhobenen Daten werden durch ein standardisiertes Monitoring und durch Audits gemäß den gesetzlichen Anforderungen überprüft“, so Wiegel.
Bei der perkutanen Strahlentherapie wird laut Wiegel ausschließlich die modernste Therapie, die „intensitätsmodulierte Strahlentherapie“ eingesetzt. Zusätzlich wird geprüft, ob Patienten mit frühem intermediärem Prostatakarzinom künftig auch ohne zusätzliche Androgendeprivationstherapie behandelt werden können. „Hierdurch würde die Lebensqualität der Patienten erheblich verbessert.“
Für eine neutrale, sachgerechte und empathische Aufklärung der Patienten stehen Informationsmaterialen bereit, die speziell für diese Studie von Mitarbeitern des Instituts für Medizinische Psychologie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf entwickelt wurden. Jeder an der Studie teilnehmende Arzt muss die Materialien für seinen potenziellen Patienten einsetzen.
Therapie auf höchstem medizinischem Niveau
Der Patient hat die Möglichkeit, sich nach sorgfältiger Information und Abwägung für diejenigen Therapieformen zu entscheiden und randomisieren zu lassen, für die er offen und geeignet ist. Die Randomisierung erfolgt also präferenzbasiert, daher auch das Akronym PREFERE. „Es bedeutet, dass der Patient einzelne Behandlungen abwählen kann, wenn sie für ihn völlig inakzeptabel sind, solange er bereit bleibt, sich bei den verbleibenden Alternativen dem Randomisierungsprozess zu beugen, also dem Zufallsentscheid“, erläuterte Stöckle.
Davon unbenommen stehen die Sicherheit und Lebensqualität der Patienten an höchster Stelle, sie werden nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen behandelt und erhalten eine Therapie auf höchstem medizinischem Niveau.
Für die Finanzierung werden in den nächsten 18 Jahren insgesamt fast 25 Millionen Euro benötigt. 13,5 Millionen stellt die Deutsche Krebshilfe e. V. zur Verfügung, von den gesetzlichen und privaten Krankenversicherern kommen 11,5 Millionen. „Das Finanzierungsmodell erlaubt uns, die Studie unabhängig von industriellen und kommerziellen Interessen durchzuführen“, so Gerd Nettekoven, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krebshilfe e. V., die auch für die Organisation verantwortlich zeichnet.
Große Allianz an beteiligten Institutionen und Organisationen
Uneingeschränkte Unterstützung erhält die Studie durch eine breite Basis an Institutionen und Organisationen: durch das IQWiG, das auch an der Konzeption beteiligt war, durch die Deutsche Gesellschaft für Urologie, die Deutsche Gesellschaft für Radioonkologie, den Berufsverband Deutscher Urologen, die Deutsche Krebsgesellschaft und den Bundesverband Prostatakrebs Selbsthilfe. Eine solche Allianz hat es wohl noch nicht gegeben.
Beauftragt wurde PREFERE vom Gemeinsamen Bundesausschuss im Jahr 2009, nachdem die Aufnahme der Brachytherapie in den ambulanten Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen aufgrund der unzureichenden Datenlage zunächst ausgesetzt und die Durchführung weiterer klinischer Studien empfohlen worden war. Das war die Initialzündung für die Entwicklung der Studie, um die Brachytherapie mit anderen Therapien vergleichen zu können.
Die deutschen Urologen sind aufgerufen, ihre Patienten zu einer Studienteilnahme zu motivieren. Das gilt gerade auch für jüngere Patienten: „Nur wenn unsere Population repräsentativ ist für die Gesamtheit aller in Deutschland entdeckten Prostatakarzinome, wird man zuverlässige Daten gewinnen können“, sagte Stöckle – und das nicht zuletzt auch über den tatsächlichen Stellenwert des Konzepts der Aktiven Beobachtung.