Die Immunogenität von Gerinnungsfaktor VIII hängt nicht davon ab, ob er gentechnisch produziert oder aus Plasma gewonnen wurde. Kinder mit einer schweren Hämophilie A entwickeln gleich häufig und unabhängig von den beiden Herstellungs-Varianten hemmende Antikörper gegen diesen Faktor. Auch der Anteil des von Willebrandt-Faktors in den verschiedenen Produkten und ein Wechsel zwischen den Präparaten hatte keinen Einfluss auf die Entwicklung von Antikörpern. Das geht aus einer Studie mit 574 zuvor unbehandelten, im Durchschnitt 6,4 Jahre alten Patienten hervor, über die das New England Journal of Medicine berichtet. Die Studie offenbarte jedoch, dass es durchaus signifikante Unterschiede innerhalb der Gruppe der rekombinanten Produkte gibt.
Hintergrund der Untersuchung unter der Leitung von Dr. med. H. Marijke van den Berg (University Medical Center, Utrecht, Niederlande) ist die Erfahrung, dass etwa 30% der Patienten mit Hämophilie A nicht die übliche Behandlung bekommen können, weil sie inhibitorische Antikörper gegen den Gerinnungsfaktor VIII entwickeln. Die Antikörperbildung stellt sowohl die ernsthafteste als auch die teuerste Komplikation bei einer Hämophilie dar. Viele Experten hatten gemutmaßt, dass dafür eine höhere Immunogenität gentechnisch erzeugter (rekombinanter) Faktor VIII-Produkte verantwortlich sein könnte.
Mehrere Studien zu dieser Frage hatten jedoch kein eindeutiges Ergebnis erbracht. Die Aussagekraft dieser Untersuchungen war wegen der geringen Zahl der Teilnehmer, der uneinheitlichen Patientenpopulationen, des Gebrauchs verschiedener Faktor VIII-Produkte, der nicht vergleichbaren Studiendesigns sowie aus zahlreichen anderen Gründen begrenzt, kritisieren die Wissenschaftler um van den Berg in ihrer Publikation.
Etwa ein Fünftel entwickelt hohe Antikörper-Titer
Bei ihrer Untersuchung von 574 Patienten fanden die Mitglieder der Forschungsnetzwerke PedNet (Investigators in the European Pediatric Network for Hemophilia Management) und RODIN (Research of Determinants of Inhibitor Development) klinisch relevante Antikörper bei 177 Patienten (32,4%). 116 (22,4%) hatten hohe Antikörper-Titer. Die Antikörper traten im Mittel nach 15 Tagen auf und in einem Alter von durchschnittlich 15,5 Monaten.
Eine Korrelation zwischen der Herstellungsweise der Factor VIII-Produkte und der Häufigkeit der Inhibitorenbildung nach bis zu 75 Tagen Exposition fand sich dabei nicht. Die bereinigte Hazard Ratio (HR) beim Vergleich von Faktor VIII aus Plasma gegenüber rekombinanter Produktion betrug 0,96.
Auch beim sekundären Zielwert der Studie, der Ausbildung hoher Titer inhibitorischer Antikörper, gab es zwischen den zwei Produktweisen keine signifikanten Unterschiede. Ebenso wenig spielte die Menge an von-Willebrand-Faktor eine Rolle. Dieses Protein bildet die zweite funktionelle Untereinheit des Faktor-III-Komplexes und ist je nach Herstellungsverfahren in unterschiedlich großen Mengen im Endprodukt enthalten.
Eine Differenzierung zwischen verschiedenen aus Plasma gewonnenen Produkten war in dieser Studie nicht möglich. Dafür sei die Zahl der behandelten Patienten zu gering und die Vielfalt der Präparate zu groß gewesen, schreiben die Autoren.
Auffällig waren jedoch Unterschiede bezüglich der Wahrscheinlichkeit der Inhibitoren-Bildung zwischen verschiedenen Klassen rekombinanter Faktor VIII-Präparate. Die Autoren teilten diese in 3 Gruppen:
- Eine erste Generation, bei der die produzierenden Zellen vollständige Sequenzen des Faktor-VIII-Gens tragen, und bei der in der Produktion sowohl Säugetier-Proteine als auch Zugaben humanen Plasma-Albumins zur Stabilisierung (Helixate, Kogenate, Rekombinate) benutzt werden.
- Eine zweite Generation, bei deren Produktion dem Nährmedium humane Plamaproteine beigegeben werden. Hier gibt es Produkte mit vollständiger Gensequenz (Kogenate FS, Helixate NexGen) und solche, bei denen ein Abschnitt entfernt wurde, der die Erbinformation für die so genannte B-Domäne von Faktor VIII enthält (ReFacto).
- Eine dritte Generation, die wiederum Gensequenzen in voller Länge enthält, die aber ohne die Zugabe menschlicher oder tierischer Proteine hergestellt wird (Advate, ReFacto AF).
Beim Vergleich mit der dritten Generation, die als Referenz diente, zeigte sich ein erhöhtes Risiko für Produkte der zweiten Generation mit vollständiger Gensequenz (bereinigte HR:1,60 p-Wert: 0,02), nicht aber für Vertreter der ersten Generation (0,99/0,96) und dem um die B-Domäne gekürzten Produkt der zweiten Generation (1,01/0,97).
Auf die Art der rekombinanten Produkte kommt es an
„Die wesentliche Message der Arbeit bezieht sich nicht auf die Häufigkeit der Antikörperbildung zwischen aus Plasma und rekombinant hergestelltem Faktor VIII, sondern auf ein erhöhtes Antikörperrisiko mit bestimmten rekombinanten Faktor VIII-Produkten“, erläuterte Prof. Dr. med. Johannes Oldenburg, Facharzt für Transfusionsmedizin, Hämostaseologie, Medizinische Genetik und Leiter des Hämophilie-Zentrums am Universitätsklinikum Bonn.
Das erhöhte Risiko für eine Antikörperbildung spielt laut Oldenburg aber nur in einem relativ kleinen Zeitfenster eine Rolle. „Der Großteil der Patienten ist davon nicht betroffen.“ Außerdem bemängelte Oldenburg: „Die Publikation ist rein deskriptiv und liefert keine Erklärungsmodelle für die Beobachtung.“
In der Tat diskutieren die Studienautoren zwar den unerwarteten Befund, dass Empfänger der zweiten Generation ungekürzter rekombinanter Produkte ein um 60% erhöhtes Risiko hatten, inhibitorische Antikörper zu entwickeln. Sie bieten dafür aber keine Erklärung an. Solange die Beobachtung nicht durch andere Studien bestätigt werde, könne man auch nicht ausschließen, dass es sich um einen Zufall handelt, schreiben sie.
Welche Lehren man aus der Studie ziehen soll, war auch bei Bayer Healthcare zunächst nicht klar. Ein Vertreter der Firma, die zusammen mit Baxter Bioscience die aktuelle Untersuchung finanziert hatte, erklärte auf Anfrage, dass man von den Ergebnissen erst mit der soeben erfolgten Publikation erfahren habe und deshalb mit der Analyse noch am Anfang stehe.