Vitamin-D-Prophylaxe bei Säuglingen und Kleinkindern – wichtig ist die richtige Dosierung

Anja Laabs | 22. Januar 2013

Autoren und Interessenskonflikte

 

Dr. med. Hermann Josef Kahl
 

Die Vitamin-D-Gabe bei Säuglingen gehört seit langem zur Standardprophylaxe, um einem Vitamin-D-Mangel oder einer Rachitis vorzubeugen. Die Art und Weise der Applikation und die Dosierung, je nachdem ob es sich um eine therapeutische oder prophylaktische Gabe handelt, sind in einer Leitlinie festgehalten. Doch scheint es bei der Vitamingabe in der Praxis Dosierungsunsicherheiten zu geben, die auch zu Nebenwirkungen führen können. Darüber sprach Medscape Deutschland mit Dr. med. Hermann Josef Kahl, Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Kinderkardiologe und Mitglied des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte e.V. (BVKJ) und mit Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Hans-Georg Joost, wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke (DifE).

Medscape Deutschland: Die Fachwelt scheint sich darüber einig zu sein, dass die Vitamin-D-Prophylaxe insbesondere in unseren Breiten notwendig und sinnvoll ist. Sehen Sie das auch so, und ist sie wirklich so gefahrlos wie allgemein angenommen?

Dr. Kahl: Vitamin D muss Säuglingen gegeben werden. Das ist klar. Doch der Berufsverband mahnt immer wieder an, unbedingt richtig zu dosieren. Auch wenn tendenziell eher unter- als überdosiert wird, sind die Nebenwirkungen bei Überdosierung nicht zu unterschätzen. Dabei kann es beispielsweise zu Nierenschäden kommen.

 

Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Hans-Georg Joost
 

Prof. Joost: Der im Vergleich zu Erwachsenen wesentlich höhere Vitamin-D-Bedarf bei Säuglingen kann weder allein über die Nahrung noch in Verbindung mit der notwendigen UV-Licht-Exposition gedeckt werden. Um einer Unterversorgung und der schweren Erkrankung Rachitis vorzubeugen, sollten Säuglinge nach Leitlinienempfehlung 400-500 IE (Internationale Einheiten), also 10-12,5 µg (Mikrogramm) Vitamin D pro Tag bekommen. Diese Empfehlung ist sehr sicher. Selbst bei einer versehentlichen Überdosierung kann noch nichts passieren. Intoxikationen sind erst bei einem Faktor 100 beschrieben.

Medscape Deutschland: Das Bundesinstitut für Risikobewertung sieht die Gefahr einer Überdosierung bei Kindern ab einer täglichen Zufuhr von über 100 µg Vitamin D. Allerdings sei dies aber nur durch die übermäßige Einnahme von Vitamin D-Präparaten möglich. Welche Rolle spielt die Überdosierung in der Praxis?

Dr. Kahl: Aus praktischen Gründen werden von Hebammen und Kinderärzten gern die Vitamin-D-Tropfen anstatt Tabletten empfohlen. Die Tropfen sind allerdings höher dosiert, als es den Empfehlungen der Leitlinie entspricht. Anstatt der 500 IE sind da 650 IE drin. Es wird also zwangsweise höher dosiert. Allerdings wird bei weitem nicht so regelmäßig supplementiert, wie es den Empfehlungen entspricht. Viele Eltern vergessen die regelmäßige Gabe. Insofern relativiert sich das Überdosierungsproblem dann auch. Maßgeblich ist allerdings die Annahme, dass sowohl die Tabletten als auch die Tropfen regelmäßig eingegeben werden.

Prof. Joost: Bei Säuglingen gilt auch eine Tagesdosis von 1000 IE als absolut sicher. Die tolerierbare Dosis bei Erwachsenen liegt sogar bei 2000 IE pro Tag. Ich halte die Vitaminisierung mit den Standardpräparaten für absolut sicher. Wir haben genügend Sicherheitsmaßnahmen, um zu verhindern, dass nicht überdosiert wird. Übrigens darf Vitamin D nach der Vitaminverordnung nur in Apotheken abgegeben werden.

Medscape Deutschland: Wie ernst ist das Problem der Vitamin-D-Unterversorgung in Deutschland?

Dr. Kahl: Hierzulande erkranken jährlich etwa 100 Kinder an Rachitis. Wesentlich größer als dieses Problem scheint mir allerdings der nicht so stark ausgeprägte Vitamin-D-Mangel zu sein, der sich z.B. durch eine erhöhte Infektanfälligkeit und Gelenkbeschwerden zeigt. In der nächsten Stufe treten dann der rachitische Rosenkranz sowie Knochen- und Gelenkbeschwerden auf. Wenn die Vitamin-D-Prophylaxe ab dem zweiten Jahr etwa aufhört, nimmt der Mangel enorm zu. Hier gibt es auf jeden Fall Lücken, die sich in den nächsten Jahren bei den Kindern zeigen werden.

Prof. Joost: Die prophylaktische Vitamin-D-Versorgung ist unumgänglich und wird bis zum 18. Lebensmonat von den Krankenkassen finanziert. In diesem Alter wachsen Menschen so schnell und bauen so massiv Knochenmasse auf, wie sie es dann im Leben nie wieder tun. Dafür brauchen sie das Vitamin D, welches dann lichtabhängig für den Knochenaufbau verstoffwechselt wird. Dennoch muss natürlich nicht jedes Kind, das diese Prophylaxe nicht erhält, auch Rachitis bekommen. Hier gibt es individuelle Unterschiede. Die aktuellen Erkrankungszahlen zeigen, dass die Versorgung über Tropfen oder Tabletten erst einmal ausreicht. In den USA wird Vitamin D sogar der Milch und anderen Lebensmitteln zugesetzt.

Medscape Deutschland: Wie sollte eine Vitamin-D-Prophylaxe sinnvollerweise durchgeführt werden und was ist dabei zu beachten?

Dr. Kahl: Die Vitamin-D-Versorgung innerhalb der ersten zwei Jahre sollte regelmäßig in der vorgegebenen Dosierung durchgeführt werden. In Gesprächen müssen die Kinderärzte die Eltern auf die Risiken der Unter- und Überdosierung aufmerksam machen. Zudem sollten Kinder Vitamin-D-reich ernährt werden und täglich nach draußen gehen. Dabei ist es wichtig – abhängig von der Temperatur und Intensität der Sonneneinstrahlung – auch Körperteile frei zu lassen, damit die UV-Strahlen dort auch ran können. Schließlich plädiere ich, in Abhängigkeit von den Blutwerten, für die Vitamin-D-Supplementierung auch über das zweite Lebensjahr hinaus und für eine Anpassung der Vitamin-D-Konzentration in den Tropfen an die geltenden Leitlinienempfehlungen.

Prof. Joost: Durch die evolutionär bedingte Anpassung an die Strahlungsintensität, leben in diesen Breiten vor allem hellhäutige Menschen. Dunkelhäutige Menschen haben per se ein höheres Risiko hierzulande einen Vitamin-D-Mangel zu erleiden. Deshalb gehören sie zur Risikogruppe, die bei der prophylaktischen Supplementierung unbedingt und im ärztlichen Alltag beachtet werden muss. Auch Menschen, die aufgrund ihrer soziokulturellen Gewohnheiten die Körperteile stark bedecken, müssen beachtet werden. Es macht Sinn, die Supplementierung aufgrund der Strahlungsintensität jahreszeitlich anzupassen. Dazu gibt es aber bislang keine Untersuchungen. Schließlich halte ich es für grundsätzlich sinnvoll, die Vitamin-D-Versorgung auch vom Plasmaspiegel abhängig zu machen. Die regelmäßige Überprüfung des Vitamin-D-Spiegels ist hierzulande eher unüblich. Bei Kindern, Jugendlichen und jungen Menschen bis zum Ende der Knochenaufbauphase mit etwa 30 Jahren, machen diese Untersuchungen aber Sinn, um der späteren Osteoporose vorzubeugen.

Medscape Deutschland: Vielen Dank für das Gespräch!

Referenzen

Referenzen

  1. Leitlinien der Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin (DGKJ), Vitamin-D-Mangel-Rachitis, Januar 2010
    http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/027-037_S1_Vitamin-D-Mangel-Rachitis_01-2010_01-2015.pdf
  2. Stellungnahme, Vitamin D-Versorgung im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter, Ernährungskommission der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Juli 2011
    http://www.dgkj.de/uploads/media/1107_Stellungnahme_Vitamin_D_01.pdf
  3. Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr Vitamin D, 2012
    http://www.dge.de/pdf/ws/Referenzwerte-2012-Vitamin-D.pdf
  4. Umrechnung:
    1 IE Vitamin D3 entspricht 0,025 µg Vitamin D3 entspricht 65,0 pmol Vitamin D3

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Anja Laabs
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Dr. med. Hermann Josef Kahl
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Hans-Georg Joost
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

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