Seit sich Ende der 1990erJahre das Bewusstsein dafür geschärft hat, dass Neugeborene ihren Schmerzen zwar weniger Ausdruck verleihen können, sie gleichwohl empfinden und verarbeiten, wird mehr Wert auf eine sorgfältige Anästhesie dieser jüngsten Patienten gelegt. Postoperative Schmerzen nach größeren Eingriffen werden jedoch selbst bei den Kleinsten meist mit Opioiden behandelt – mit der Gefahr unerwünschter Nebenwirkungen in Form von Atem- und Kreislaufdepression, Übelkeit, Erbrechen und Juckreiz. Nun hat ein niederländisches Forscherteam gezeigt, dass sich die Menge der postoperativ verabreichten Morphinmenge um fast 2 Drittel reduzieren lässt, wenn die Kinder in den ersten 48 Stunden nach der Operation intravenös Paracetamol zur Schmerzlinderung erhalten [1]. Ein Ansatz, der gleichwohl - vor allem aufgrund der Lebertoxizität des Analgetikums – nicht unumstritten ist.
Ganz ohne Morphin geht es nicht
In einer randomisierten Doppelblind-Studie hatten Dr. Ilse Ceelie vom Erasmus MC-Sophia Children's Hospital in Rotterdam und ihre Kollegen untersucht, ob sich die postoperative Gabe von Opioiden bei Neugeborenen und Kindern durch Verabreichung von intravenösem Paracetamol um mindestens 30% reduzieren lässt.
71 Kinder, die sich im Alter von bis zu einem Jahr einem größeren, nichtkardiologischen Eingriff am Thorax oder Abdomen unterziehen mussten, nahmen an der Studie teil. Alle erhielten kurz vor dem erwarteten Ende der Operation eine Initialdosis Morphin, danach wurden die kleinen Patienten randomisiert den beiden Studienarmen zugeteilt. Den Kindern der Paracetamol-Gruppe verabreichten die Ärzte danach in 4 Tagesdosen intravenöses Paracetamol (30 mg/kg), Kindern der Opioid-Gruppe je nach Alter stündlich 2,5 µg/kg (für Neugeborene bis maximal 10 Tage) beziehungsweise 5 µg/kg (Alter: 11 Tage bis 1 Jahr). Das Dosisregime der Opioid-Gruppe richtete sich dabei streng nach den alters- und gewichtsabhängigen Veränderungen in der Clearance-Rate für Opioide.
Für beide Gruppen behielten sich die Ärzte die Gabe von Morphin als Notfallmedikament vor, wenn die Kinder Anzeichen von Schmerzen zeigten. Diese wurden bei entsprechendem Verhalten der Kinder, spätestens aber alle 8 Stunden mit Hilfe zweier Schmerzskalen erfasst und bewertet.
Endpunkte der Studie waren die kumulative Morphindosis, die die Kinder während der ersten 48 Stunden nach der Operation erhalten hatten, die Menge an Morphin, die den Kindern als Notfallmedikament verabreicht wurde, sowie eventuell auftretende Nebenwirkungen.
Paracetamol hilft Morphin zu sparen
Wie sich herausstellte, hatten die Kinder der Paracetamol-Gruppe am Ende der Studie insgesamt 66% weniger Morphin erhalten als die Kinder der Opiat-Gruppe (121 µg/kg vs. 357 µg/kg pro 48 Stunden). Aufgeschlüsselt nach dem Alter der Kinder war die kumulative Morphindosis bei den Neugeborenen in der Paracetamol-Gruppe um 49% niedriger, bei den älteren Kindern betrug der Unterschied zur Morphin-Gruppe sogar 73%.
Die Menge des als Notfallmedikament benötigten Morphins unterschied sich in den beiden Studienarmen nicht signifikant, ebenso die Häufigkeit unerwünschter Nebenwirkungen. Die mittleren Schmerzwerte waren in beiden Gruppen ebenfalls vergleichbar.
„Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass intravenöses Paracetamol eine interessante Alternative in der primären Analgesie von Neugeborenen und Kindern sein könnte“, schlussfolgern die Autoren aus ihrer Studie. Als Gründe für den Wechsel von Morphin zu Paracetamol führen Ceelie und ihr Team vor allem die Gefahr von Atemdepressionen an, die bei Überdosierung von Opioiden auftreten können.
„Auch wenn die Datenlage zur Sicherheit von intravenösem Paracetamol bei Neugeborenen derzeit noch begrenzt ist, ist es doch unwahrscheinlich, dass es toxischer ist als rektales Paracetamol. Darüber hinaus haben Neugeborene ein geringeres Risiko für Leberschäden durch Paracetamol, da bei ihnen die Enzyme, die für die Bildung von lebertoxischen Paracetamol-Metaboliten verantwortlich sind, noch nicht funktionsfähig sind“, argumentieren die Autoren bezüglich der Lebertoxizität des Analgetikums.
Prospektive Studien zur Sicherheit des Verfahrens notwendig
Eine Rechtfertigung, die Dr. Anand Kanwaljeet, Pädiater am Childrens' Foundation Research Center im Memphis, in einem begleitenden Editorial jedoch so nicht gelten lassen will [2]. „Leberschäden nach der Gabe von intravenösem Paracetamol sind nicht ungewöhnlich und wurden bei Kindern meist nach deutlicher Überdosierung des Wirkstoffs beobachtet. Sie können aber auch nach therapeutischen oralen Dosen auftreten“, schreibt der Wissenschaftler.
Bevor Ceelie und Kollegen Empfehlungen zum regelmäßigen Einsatz von intravenösem Paracetamol zur postoperativen Analgesie bei Kindern aussprächen, seien deshalb unbedingt prospektive Studien zur Sicherheit des Verfahrens notwendig, gibt Kanwaljeet zu bedenken. „Da die Paracetamol-Clearance mit sinkendem Gestations- und postnatalem Alter abnimmt, besteht die Gefahr, dass die langfristige Gabe von Standarddosierungen alle sechs Stunden gerade bei jungen Kindern oder Kindern in kritischem Zustand zur Toxizität führt.“
Das Problem der postoperativen Analgesie sieht der Pädiater allerdings weniger in der Frage, ob Opioide noch zeitgemäß sind, als vielmehr in der großen Variabilität, die bei der Analgesie mit Opioiden in den verschiedenen Kliniken zu beobachten ist. In einer aktuellen Studie hatten er und seine Kollegen festgestellt, dass sich die Initialdosen, die durchschnittlichen Tagesdosen, die kumulativen Dosen und die höchsten Infusionsraten zwischen verschiedenen Kliniken teilweise um das 100-Fache unterschieden [3].
Fortschritte in deutschen Kliniken
Eine Einschätzung, die auch Dr. Karin Becke, Chefärztin der Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin an der Cnopf´schen Kinderklinik der Diakonie Neuendettelsau in Nürnberg, teilt. „Opioide gelten als sicher, wenn das Personal geschult ist und Routine-Überwachungsmaßnahmen zum Einsatz kommen”, sagte sie gegenüber Medscape Deutschland. Hier befänden sich deutsche Kliniken auf einem guten Weg. „Ich gehe davon aus, dass sich die Schmerztherapie in vielen Einrichtungen in den letzten Jahren signifikant entwickelt hat, auch wenn wir das nur eingeschränkt beurteilen können“, erklärte die Expertin.
So deuteten erste Auswertungen einer bundesweiten Umfrage zum Thema „Perioperative Schmerztherapie bei Kindern“ darauf hin, dass heute rund 40% der Kliniken differenzierte Scoringsysteme einsetzen, 46% der Kliniken wenden standardisierte Therapieregimen an. Im Jahr 2001 lagen die Werte hierfür noch bei 6,9 beziehungsweise 4,4%, wie die Sprecherin des Arbeitskreises Kinderanästhesie der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und lntensivmedizin (DGAI) betonte. Opioide bei Säuglingen finden heute in 85% der Kliniken (2001: 61,5%) Anwendung.
Dass ein standardisiertes Therapieregimen nicht nur die klinische Variabilität, sondern auch die Infusionsrate von Morphin reduzieren und die opiumbedingten Nebenwirkungen auf ein Minimum senken können, davon ist Kanwaljeet überzeugt. „Die in der vorgestellten Studie verabreichten Morphindosen waren signifikant geringer als die, die üblicherweise postoperativen Kindern verabreicht werden“, lobt der Pädiater das Vorgehen von Ceelie und Kollegen.
Den Grund für ihre große Sorgfalt erklärt Dr. Saskia de Wildt, Mitautorin der Paracetamol-Studie gegenüber Medscape Deutschland: „Wie unsere Arbeitsgruppe schon früher zeigen konnte, führen die Morphindosen, die Neugeborenen routinemäßig verabreicht werden (10-20 µg/kg/h), zu viel höheren Blutspiegeln, als dies ähnliche Dosen bei älteren Kindern tun. Und auch in der aktuellen Studie betrug der Anteil der Kinder mit schwerer Atemdepression – trotz der sehr niedrigen und dem Alter angepassten Dosierung – in der Morphin-Gruppe zehn Prozent.“
NSAR statt Paracetamol
„Opioide sind wirksame Schmerzmittel und ein vollständiger Verzicht bei operativen Eingriffen ist nicht denkbar. Die Minimierung der Dosen ist heute jedoch bereits Usus und kann durch Regionalverfahren und die Ergänzung mit NSAR einen hohen Patientenkomfort und Sicherheit bieten“, erklärte Dr. Judith Giest, Oberärztin am Helios Klinikum Berlin-Buch und dort für die Kinderanästhesie und interdisziplinäre pädiatrische Intensivmedizin verantwortlich, gegenüber Medscape Deutschland.
Zur Reduktion des Opiatverbrauchs mit den gefürchteten Nebenwirkungen gebe es in Deutschland ein gut funktionierendes Konzept. Dieses sei auch Grundlage einer Empfehlung des Arbeitskreises Kinderanästhesie der DGAI, an der Giest mitgearbeitet hat. Das Konzept empfiehlt, den frühzeitigen Einsatz einer Regionalanästhesie zur basalen kontinuierlichen Schmerztherapie mit einem gut verträglichen Lokalanästhetikum. Ergänzend werden nicht-steroidale Antirheumatika (NSAR) eingesetzt.
„Paracetamol wird wegen einer drohenden Hepatotoxizität sowie der Triggerung von Asthma im späteren Kindesalter sowie der schlechteren analgetischen Wirkung von uns nur kurzfristig genutzt“, erklärte die Anästhesistin.