Bariatrische Chirurgie: Wie sich Darmflora und Blutzucker mittels Magenbypass verändern

Andrea S. Klahre | 8. Januar 2013

Autoren und Interessenskonflikte

Die Symbiose von Mensch und Maschine führt immer wieder zur Frage, was den Menschen ausmacht. Eine ganze andere Art der Symbiose, nämlich die mit den Kleinstlebewesen in unserem Organismus, lädt inzwischen zu ähnlichen Überlegungen ein. Anlässlich neuer Erkenntnisse über die bedeutende Rolle der intestinalen Mikrobiota – der Gesamtheit von mehr als 100 Milliarden Mikroorganismen in unserem Darm – und den Zusammenhängen mit metabolischen Erkrankungen stellt sich durchaus die Frage: „Werden wir von unserer Darmflora regiert?“ [1]

 

Prof. Dr. med. Jürgen Gräßler
 

Die geradezu verblüffenden Ergebnisse einer Studie vom Ende letzten Jahres offenbaren, dass sich die Zusammensetzung der Darmflora tiefgreifend ändert, wenn der Chirurg beim hochgradig adipösen Typ-2-Diabetiker einen Magenbypass anlegt [2]. Ein Wissenschaftlerteam der Universitätsklinik Dresden hat dies mittels Sequenzierung des kompletten Mikrobioms erstmals zeigen können. Über die Implikationen der Arbeit sprach Medscape Deutschland mit dem Erstautor Prof. Dr. med. Jürgen Gräßler, Leiter des Bereiches Pathologische Biochemie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik III am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden.

Medscape Deutschland: Herr Professor Gräßler, die bariatrische Chirurgie ist nicht unumstritten. Sie haben Ihren Forschungsansatz allerdings sehr fokussiert: Die Verschiebung des Besiedlungsmusters der intestinalen Mikrobiota bei morbid adipösen Typ-2-Diabetikern nach einem Roux-en-Y-Magenbypass. Was genau wollten Sie wissen – und warum?

Prof. Gräßler: Einer der spannendsten Befunde nach Magenbypass-Operationen ist die schnelle Rückbildung der diabetischen Stoffwechsellage bei Typ-2-Diabetikern mit einem präoperativen BMI >40 kg/m² noch vor Eintreten eines deutlichen Gewichtsverlusts. Die Ursachen hierfür sind weitgehend unklar. Neben einer veränderten Verfügbarkeit und Resorption von Nährstoffen werden komplexe Veränderungen in der Gesamtheit des Mikrobioms vermutet. Unsere Untersuchungen konzentrierten sich deshalb zunächst auf die subakuten Effekte nach einem Roux-en-Y-Magenbypass bei 6 morbid adipösen Typ-2-Diabetikern.

Neben einer umfangreichen klinischen Untersuchung erfolgte die Sammlung von Stuhlproben vor und 3 Monate nach Operation, aus denen die komplette DNA isoliert wurde. In Zusammenarbeit mit einem chinesischen Kooperationspartner wurde die genetische Analyse des gesamten Mikrobioms bzw. Metagenoms – das entspricht ca. 3,3 Milliarden Basenpaaren pro Probe – realisiert. Nach Abgleich der erhaltenen Sequenzen mit verschiedenen Datenbanken konnten relative Häufigkeiten von Genen, Spezies, Gattungen usw. ermittelt werden, anhand derer man den Effekt der Magenbypass-Operation auf das Mikrobiom und seine Wechselwirkung mit der metabolischen und klinischen Situation des einzelnen Patienten analysieren konnte.

Medscape Deutschland: Wie lauten die wichtigsten Ergebnisse?

Prof. Gräßler: Durch Sequenzierung des kompletten Metagenoms konnten in den prä- und postoperativen Stuhlproben der untersuchten Patienten insgesamt 1.061 verschiedene Spezies, 729 Gattungen und 44 Stämme identifiziert werden. Trotz ihrer hohen Diversität ließen sich die Bakterien 7 Abteilungen zuordnen. Die durch die Bypass-Operation ausgelöste Verschiebung der mikrobiellen Besiedlung war durch eine Abnahme von Firmicutes und Bacteroidetes sowie eine Zunahme von Proteobacterien charakterisiert.

Drei Monate nach Magenbypass kam es zu deutlichen Veränderungen in der relativen Häufigkeit von 22 mikrobiellen Spezies und 11 Gattungen. Darunter waren 7 Spezies, die signifikant mit der Abnahme des BMI und dem inflammatorischen Status, gemessen an der Serumkonzentration des C-reaktiven Proteins, korrelierten. Die funktionelle Analyse des Kohlenhydratstoffwechsels mittels KEGG (Kyoto Encyclopedia of Genes and Genomes) zeigte einen signifikanten Anstieg der relativen Häufigkeit von 13 Genen, die den Phosphotransferasesystemen zugeordnet werden können. Und dies ist ein Indiz für die Anpassung des Mikrobioms an die Substratverknappung.

Rang-Korrelationsuntersuchungen ergaben interessanterweise einen Zusammenhang von 10 Spezies zum Gesamt- bzw. LDL-Cholesterol und von 5 Spezies zu Triglyceriden. Veränderungen der relativen Häufigkeit von Faecalibacterium prausnitzii korrelierten direkt mit der Konzentration der Nüchternblutglucose.

Mit diesen Untersuchungen konnte erstmals die tiefgreifende und spezifische individuelle Modifikation der mikrobiellen Zusammensetzung nach Magenbypass gezeigt werden. Es konnte die Existenz eines signifikanten Zusammenhangs zwischen Darmmikrobiom bzw. Genfunktion und der Verbesserung des metabolischen und inflammatorischen Status bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ-2 nach Anlegen eines Magenbypasses nachgewiesen werden. Die Daten unterstreichen, dass die Betrachtung des humanen Darmmikrobioms nach solchen Operationen nicht auf Stamm (Phylum)-Ebene begrenzt werden darf, sondern eine Ausweitung der Analysen auf Spezies- und Gen-Ebene erfordert.

Medscape Deutschland: Welche Aussagekraft haben Ihre Ergebnisse vor dem Hintergrund, dass das Patientenkollektiv eher klein war?

Prof. Gräßler: Die hier vorgestellten Daten haben den Rang einer Pilotstudie und damit einen orientierenden Charakter. Allerdings sind diese Ergebnisse sehr ermutigend, die Untersuchungen in umfangreicheren Studien fortzuführen, um sowohl den zeitlichen Verlauf als auch die spezifischen Metagenomveränderungen nach Magenbypass detaillierter zu analysieren.

Medscape Deutschland: Hat sich das Bakterienspektrum nicht nur verschoben, sondern möglicherweise auch erweitert – mit noch ganz anderen Risiken für die Patienten als die, die ohnehin bestehen?

Prof. Gräßler: Neben Veränderungen des Metagenoms, die mit den positiven metabolischen und klinischen Effekten nach Magenpass assoziiert waren, beobachteten wir die Zunahme der relativen Häufigkeit einiger Spezies, zum Beispiel Shigella boydii um das 50-fache und Enterobacter cancerogenus um das 20-fache, die langfristig das Risiko entzündlicher Darmerkrankungen und des Kolonkarzinoms erhöhen können und deshalb sorgfältig verfolgt werden sollten.

Medscape Deutschland: Lassen sich die positiven Veränderungen im Stoffwechsel und im Besiedelungsmuster nicht auch durch eine konsequente Änderung des Lebens- bzw. Ernährungsstils erzielen?

Prof. Gräßler: Das ist absolut zutreffend. Die Behandlung eines jeden Typ-2-Diabetikers basiert auf einer Änderung des Lebensstils und der Ernährung. Präventionsstudien belegen den möglichen Erfolg überzeugend, das gilt insbesondere für Gruppentherapien. Allerdings gibt es eine ganze Reihe von Patienten, die damit allein nicht ausreichend therapiert werden können. Das trifft vor allem auf Patienten mit extremem Übergewicht zu, für die die bariatrische Chirurgie häufig die ultima ratio ist.

Medscape Deutschland: Was bedeuten Ihre Ergebnisse für die Zukunft der Behandlung von metabolischen Erkrankungen?

Prof. Gräßler: Bei aller gebotenen Vorsicht einer Pilotstudie belegen unsere Ergebnisse den therapeutischen Nutzen des Roux-en-Y-Magenbypass für die Behandlung von morbid adipösen Typ-2 Diabetikern, der zumindest partiell durch die Modifikation des Darmmikrobioms vermittelt wird. Aus unserer Sicht sollten jedoch die Anstrengungen verstärkt werden, das Darmmikrobiom durch optimierte Ernährung und zum Beispiel durch probiotische Nahrungsmittel so zu modifizieren, dass die gewünschten metabolischen Effekte ohne chirurgische Intervention, die auch mit Risiken verbunden ist, erreicht werden.

Medscape Deutschland: Wie würden die Fragestellungen für weiterführende Studien mit größeren Patientengruppen lauten?

Prof. Gräßler: Diese sollten unter anderem den zeitlichen Verlauf der Metagenomveränderungen und mögliche kritische Phasen nach Magenbypass-Operationen weitergehend analysieren. Auch die Langzeitwirkung eines Magenbypass hinsichtlich eines möglichen Tumorgeschehens und entzündlicher Darmerkrankungen sollten Gegenstand weiterführender Studien sein.

Medscape Deutschland: Mit herzlichem Dank für die interessanten Einblicke wünschen wir Ihnen und Ihren Kollegen ein ergebnisreiches 2013.

Referenzen

Referenzen

  1. Werden wir von unserer Darmflora regiert?
  2. Graeßler J, et al: The Pharmacogenomics Journal (online) 2. Oktober 2012. DOI:10.1038/tpj.2012.43
    www.nature.com/tpj/journals/vaop/ncurrent/abs/tpj201243a.html

Autoren und Interessenskonflikte

Andrea S. Klahre
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.