Boston – Offenbar birgt die Einnahme von Paracetamol nach bariatrischen Eingriffen ein besonderes Risiko: Die Gefahr, ein akutes Leberversagen (ALV) zu erleiden, ist dann besonders groß. Dies geht aus einer retrospektiven Untersuchung an erwachsenen Patienten hervor, über deren Ergebnisse Dr. Edward Holt vom California Pacific Medical Center (CPMC) in San Francisco, USA, auf dem Liver Meeting 2012, der 63. Jahresversammlung der American Association for the Study of Liver Diseases (AASLD), in Boston berichtete.
Holt erklärte, dass Paracetamol-Überdosierungen in den USA die Hauptursache für ein ALV seien, wobei man die Hälfte der Paracetamol-bedingten ALV-Fälle auf unbeabsichtigte Überdosierungen zurückführen könne, häufig durch Paracetamol-haltige Kombinationsanalgetika.
Die Adipositasprävalenz hat in den USA andererseits epidemieartige Ausmaße angenommen. Eine bariatrische Chirurgie kann dabei für beträchtliche und anhaltende Gewichtsminderungen sorgen und ist in den letzten 20 Jahren sehr populär geworden. Bisher haben sich in den USA fast 4,5 Millionen Betroffene aus der erwachsenen Bevölkerung zwischen 18 und 75 Jahren einer solchen Intervention unterzogen.
Die bariatrische Chirurgie vermag Transitzeit, Resorption, Metabolismus und Pharmakokinetik für einige Arzneimittel und Alkohol zu verändern. Offenbar liegen Glutathion-Vorläufersubstanzen nach einem solchen Eingriff in geringeren Konzentrationen vor. Glutathion ist seinerseits für die Ausscheidung der Paracetamol-Metaboliten aus den Hepatozyten verantwortlich.
Die Wissenschaftler hatten einen unerwartet hohen Anteil Paracetamol-bedingten Leberversagens im Zusammenhang mit adipositaschirurgischen Interventionen festgestellt. Daher wollten sie durch eine retrospektive Studie bei Erwachsenen, die zwischen 2009 und 2011 am CPMC ein ALV erlitten hatten, diese Wechselwirkung näher untersuchen.
Ein Paracetamol-bedingtes ALV wurde wie folgt definiert: Enzephalopathie und Koagulopathie mit dokumentiertem oder nachgewiesenem positivem Serum-Paracetamolspiegel. Ausschlusskriterien waren eine anamnestisch bekannte Lebergrunderkrankung sowie andere Ursachen eines ALV.
Die Patienten mit ALV (n = 101) waren durchschnittlich 45 Jahre alt; 82% der Patienten waren Frauen, 67% davon stammten aus der weißen Bevölkerung. Von den 101 Patienten wiesen 29% Depressionen und 24% einen Alkoholmissbrauch in der Anamnese auf, fast 37% hatten Paracetamol-haltige Kombinationsarzneimittel eingenommen, 18% hatten eine Organtransplantation hinter sich, 9% hatten sich einer Adipositaschirurgie unterzogen, 19% waren verstorben.
Paracetamol verursachte mehr als die Hälfte aller ALV
Die Wissenschaftler stellten fest, dass in 54 Fällen (53,5%) Paracetamol die Ursache des ALV gewesen war. Bei 13 Patienten (12,9%) war die Ursache unbekannt. 9 Patienten mit ALV (8,9%) hatten sich zuvor einer Adipositaschirurgie unterzogen (8 Roux-en-Y-Magenbypass, 1 duodenaler Switch). Die mittlere Zeitspanne zwischen Adipositaschirurgie und ALV betrug 5,9 Jahre (Schwankungsbreite: 2 bis 9 Jahre).
In der Gruppe Paracetamol-bedingter ALV waren signifikant mehr Frauen und weiße Menschen (n = 47) als in der Gruppe mit ALV unbekannter Ursache (Frauen: 88,9% vs 74,5%; P = 0,02; Weiße: 81% vs 51,1%; p<0,001). In der Paracetamol-ALV-Gruppe waren auch signifikant mehr Fälle mit einer Depression (p<0,001), mit Alkoholmissbrauch (p<0,01) sowie Paracetamol-haltigen Kombinationspräparaten (p<0,001).
Im Gegenzug enthielt die Gruppe mit Paracetamol-bedingtem ALV weniger Transplantatempfänger (3,7% vs 34%; p<0,001) und in dieser Gruppe kam es auch seltener zu Todesfällen (14,8% vs 23,4%; p<0,001) im Vergleich zu jenen Patienten, deren ALV auf andere Ursachen zurückzuführen war.
Von den 54 Patienten mit Paracetamol-bedingtem ALV hatten sich 16,7% einer Adipositaschirurgie unterzogen, gegenüber keinem Patient der Gruppe „ALV aufgrund anderer Ursachen“ (p=0,003). In der Adipositaschirurgiegruppe hatten 66,7% Kombinationsarzneimittel verwendet, gegenüber 33,7% in der Nicht-Adipositaschirurgiegruppe (n = 92; p=0,07). In letzterer waren verhältnismäßig mehr Depressions- und Akoholmissbrauchsfälle, der Unterschied zwischen den zwei Gruppen war jedoch nicht signifikant.
Aus der Gruppe der Patienten mit Paracetamol-bedingtem ALV (mit/ohne Adipositaschirurgie) unterschied sich lediglich der Wert für Alkoholmissbrauch, er war in der Gruppe mit Adipositaschirurgie seltener: 0 von 9 vs 16 von 45 in der Gruppe ohne (35,6%; p=0,045).
Holt erläuterte: „Hinsichtlich Alter, Geschlecht oder Rasse gab es zwischen den zwei Gruppen keine Unterschiede. Wir stellten ebenso fest, dass Adipositaschirurgiepatienten nicht häufiger zu Depressionen, Alkoholmissbrauch oder der Anwendung von Kombinationspräparaten neigten. Gleiches gilt für Selbstschädigungstendenzen. Auffällig ist eine Häufigkeit von fast 80% unbeabsichtigter Überdosierung in der Adipositaschirurgiegruppe.”
„Unter den Paracetamol-bedingten ALV haben wir im Vergleich zu ALV anderer Ätiologie einen hohen Anteil an Patienten mit Adipositaschirurgie in der Anamnese gefunden. Dies führt zu einer Prävalenz, die um ein Vielfaches höher ist als in der Allgemeinbevölkerung”, machte er während seiner Präsentation deutlich. Die Häufigkeit einer Adipositaschirurgie in der Paracetamol-ALV-Gruppe betrug 16,7% vs 0,66% in der Allgemeinbevölkerung, was einer Erhöhung um das 25,3-fache in der Adipositaschirurgiegruppe bedeutet.
Ist ein neuer Warnhinweis für Paracetamol notwendig?
Zu den Einschränkungen dieser Studie: sie war retrospektiv und monozentrisch und es konnte letztlich nicht geklärt werden, auf welche pathologischen Mechanismen das erhöhte Risiko einer Paracetamol-bedingten ALV bei Adispositaschirurgiepatienten denn eigentlich zurückzuführen ist. Jedoch: Welcher Mechanismus auch immer zugrunde liege, schlussfolgern die Forscher, er scheine unabhängig von Depression, Alkoholmissbrauch, der Anwendung von Kombinationsanalgetika und der intentionalen Selbstschädigung zu sein.
Holt meinte, die Studienergebnisse hätten erhebliche Auswirkungen, sofern sie sich im Rahmen einer größeren Kohorte bestätigen ließen: „Unsere jüngsten Ergebnisse könnten für Paracetamol-bedingte ALV eine neue Risikopatientengruppe definiert haben. Erhärtet sich die Evidenzlage, sind zusätzliche Warnhinweise für Patienten nach Adipositaschirurgie angezeigt, vergleichbar mit solchen gegenüber Menschen, die 3 oder mehr alkoholische Getränke täglich konsumieren.”
Der Moderator der wissenschaftlichen Sitzung in Boston, Dr. David Mulligan, Transplantationschirurg und Direktor des Transplantationszentrums der Mayo Clinic in Phoenix, Arizona, USA, bezeichnete die Studie als sehr interessant, denn: „Sie zeigt einen Zusammenhang innerhalb einer anwachsenden Patientenpopulation, die sich einer Operation aufgrund morbider Adipositas unterzieht... Wenn man diese Population betrachtet, stellt man fest, dass ein haushaltsübliches Medikament die Betroffenen einem erhöhten Leberversagensrisiko aussetzt – das ist wirklich bedeutsam!”
Er ergänzte, die Studienergebnisse rechtfertigen weitergehende Untersuchungen auf breiterer Basis: „...um festzustellen, ob es sich hierbei um ein reales Risiko handelt und ob die US-Zulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) entsprechende Warnhinweise ausgeben solle, wonach man nach einem bariatrischen Eingriff die Paracetamol-Dosis berücksichtigen muss, z. B. durch Dosisreduktion.”
Mulligan schlug vor, dass künftige Studien folgende Aspekte betrachten sollten: Die Dosisabhängigkeit, den Zeitpunkt der Paracetamol-Einnahme im Verhältnis zur Adipositaschirurgie, das Risiko von Kombinationspräparaten, die Paracetamol enthalten sowie die möglichen Mechanismen der beobachteten Wirkungen.
Adipositaschirurgen, „zumindest jene, welche eine Magenbypassoperation vornehmen”, sollten ihre Patienten auf eine Beschränkung der Paracetamol-Einnahme hinweisen, auf alle Fälle unterhalb der deklarierten maximalen Tagesdosis, fügte er hinzu. Unbekannt sei jedoch die tatsächliche Höchstdosis. Offen sei außerdem, ob sich das Risiko auf Patienten mit Magenbypass reduziert oder ob andere bariatrischen Verfahren ebenso betrifft.
Mulligan empfahl schließlich, Patienten nach einem bariatrischem Eingriff und jeder Form von Leberaffektionen engmaschig zu überwachen sowie den Betroffenen zu empfehlen, auf die Einnahme von Paracetamol gänzlich zu verzichten.
Dieser Artikel wurde von Dr. Immo Fiebrig aus Medscape.com übersetzt und adaptiert.