„Für die großen Volkserkrankungen haben wir nur eine Chance, wenn wir gute Präventionsmedizin machen. Das in diesem Zusammenhang in der Wissenschaft wahrscheinlich meist diskutierte Thema ist in jüngster Zeit die intestinale Mikrobiota.” Mit diesen Worten begann Prof. Dr. med. Stephan Bischoff, Direktor des Instituts für Ernährungsmedizin, Prävention und Genderforschung der Universität Hohenheim, Stuttgart, auf dem Kongress „Viszeralmedizin 2012“ in Hamburg einen kleinen Einblick über die hinsichtlich ihres Potenzials lange schwer unterschätzte Darmflora [1].
Ein Grund für das nicht länger den Mikrobiologen und Gastroenterologen vorbehaltene Interesse für den Gastrointestinaltrakt dürften Mitte dieses Jahres u. a. in Nature veröffentlichte erste Ergebnisse des Human Microbiome Project sein. Das internationale Forschungsprojekt, an dem etwa 80 Universitäten und wissenschaftliche Einrichtungen unter Federführung der National Institutes of Health beteiligt sind, untersucht seit 2007 das humane Mikrobiom [2]. Sequenziert wurden Genome, die zu etwa 10.000 Bakterienspezies gehören. Alle gemeinsam besitzen etwa 8 Millionen Protein-codierende Gene, während der Mensch selbst nur über rund 22.000 verfügt.
„An diesen überraschenden Daten wird intensiv gearbeitet”, kommentierte der Gastroenterologe Bischoff. Denn welche Aufgaben die Proteine besitzen und ob bzw. wie Änderungen im Mikrobiom mit der Gesundheit des menschlichen Körpers korrelieren, sei bisher nur partiell bekannt, insbesondere aber vom Darm.
Die vor allem im Kolon in weitgehend friedlicher Koexistenz mit seinem Wirt lebenden etwa 100 Billionen Bakterien gehören rund 1.000 Stämmen an, deren Vielfalt mit zunehmendem Alter steigt. Gleichzeitig reagiert die Mikrobiota sensitiver gegenüber viralen und bakteriellen Erregern sowie Arzneistoffen, vor allem gegen Antibiotika. Diese beeinflussen die Mikroflora bekanntermaßen entscheidend, schlimmstenfalls mit Auswirkungen auf das gesamte Immunsystem.
Firmicutes machen fett
„Neue molekularbiologische Methoden erlauben es endlich, die wirtspezifische Zusammensetzung und Funktion dieser speziellen Bakterienkolonie detailliert zu untersuchen“, so Bischoff. Demnach lassen sich ihr konkrete Aufgaben zuordnen:
1. Erhalt des darmspezifischen Milieus,
2. Neutralisation von Toxinen,
3. Verdrängen pathogener Keime durch Besetzung,
4. Entwicklung und Erhalt des Darmimmunsystems,
5. Bereitstellung von enzymatischer Kapazität und
6. Unterstützung der Verdauung.
Während die Punkte 1 bis 3 insbesondere der Infektabwehr dienen, komme Punkt 4 eine zusätzliche Bedeutung zu: Bei gestörter Interaktion zwischen Darmbakterien und Darmimmunsystem kann nicht nur eine Immunschwäche, sondern auch eine immunologische Überreaktion auftreten, in deren Folge sich Allergien und chronisch entzündliche Darmkrankheiten entwickeln können. „Erst in jüngster Zeit hat man sich den Punkten 5 und 6 zugewandt, nachdem sich in etlichen Studien die Hinweise gemehrt haben, dass Störungen der Mikrobiota auch Adipositas- und Insulinresistenz-assoziiert sind“, erklärte Bischoff.
Der Zusammenhang liegt im Besiedlungsmuster. Erst 2011 wurde in Europa erforscht, dass intestinale Bakterien für zahlreiche Enzyme kodieren, die die Nährstoffaufnahme und die Effizienz der Verdauung beeinflussen. Die Besiedlungsmuster sind bei Normalgewichtigen anders als bei Übergewichtigen. Beispielsweise machen Bacteroidetes aus dem Nahrungsbrei große Mengen Kohlenhydrate für den Glukosestoffwechsel verfügbar, sein Wirt neigt eher zur Fettleibigkeit. Prevotella oder Ruminococcus scheiden mehr unverdaute Glukose aus, ihre Wirte bleiben eher schlank.
Adiöpse haben 10% mehr Bakterien vom Typ Firmicutes, die insbesondere komplexe Kohlenhydrate verdaubar machen und die Energiegewinnung aus der Nahrung steuern. Auch bei Normalgewichtigen wird durch Steigerung der Nahrungszufuhr die Anzahl von Firmicutes und damit die Energiegewinnung erhöht.
„Dieser Mechanismus, der uns über Jahrtausende vor Mangelernährung geschützt hat, wird uns heute im Zeitalter des Überflusses zum Verhängnis. Zuviel Essen wird doppelt bestraft, erstens durch übermäßige Energiezufuhr, zweitens durch optimierte Verwertung intestinaler Bakterien. Man schätzt, dass diese mit etwa fünf bis zehn Prozent zur Entwicklung von Adipositas beitragen“, sagte der Mikrobiom-Forscher. Die alte Geschichte vom besseren Futterverwerter kommt somit zu neuen Ehren.
Erhöhte Insulinsensitivität nach Fecal Microbiota Transplantation
Umgekehrt könnte eine durch exogene Faktoren veränderte Mikroflora die Insulinsensitivität beim metabolischen Syndrom erhöhen. Das zeigt eine in der Oktober-Ausgabe von Gastroenterology publizierte sehr kleine, dennoch Aufsehen erregende Studie aus den Niederlanden [3]. Anne Vrieze, MD, vom Department of Internal Medicine des Academic Medical Center Amsterdam, und Kollegen haben bei 18 adipösen Männern mit metabolischem Syndrom die Wirkung einer Fecal Microbiota Transplantation (FMT) untersucht.
9 Männern wurde allogene Mikrobiota von gesunden schlanken Spendern (BMI <23 kg/m²) infundiert, 9 Männern autologe Mikrobiota reinfundiert. Die Insulinempfindlichkeit wurde unter Verwendung des euglykämisch hyperinsulinämischen Clamps quantifiziert, dem Goldstandard zur Abschätzung der Insulinresistenz, die Zusammensetzung der Mikroflora in Dick- und Dünndarm über Stuhlproben bzw. Duodenalbiopsien. Zudem wurden fäkale Konzentrationen kurzkettiger Fettsäuren gemessen.
Sechs Wochen später hatte sich bei den Empfängern allogener Mikrobiota nicht nur das Besiedelungsmuster signifikant verändert, sie reagierten auch sensitiver auf Insulin. Die Autoren sehen darin eine Bestätigung für die potenzielle Rolle der Darmflora bei der Adipositas-assoziierten Störung des Glukose- und Lipidstoffwechsels. Die Herausforderung bestehe darin, das Wissen zu nutzen, um mikrobiotisch wirksame Therapien zu entwickeln, die den menschlichen Körper darin unterstützen, gesund zu bleiben.
Dramatische Effekte durch bariatrische Chirurgie – dennoch kein Anlass zur Euphorie
„Was passiert mit der Mikrobiota, wenn der Körper durch einen Roux-en-Y Gastric Bypass zum Abnehmen gezwungen wird?“ Unter dieser Fragestellung hat das Team um Prof. Dr. med. Stefan R. Bornstein, Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik III am Universitätsklinikum Dresden, 2010 ein Forschungsprojekt gestartet. Entsprechend der S3-Leitlinie „Chirurgie bei Adipositas“ wurden insgesamt 6 Patienten (3 Männer, 3 Frauen, 38-53 Jahre, BMI 40,9-52,1 kg/m², Typ-2-Diabetes seit 1,5-22 Jahren) für einen RYGB rekrutiert, die Ergebnisse sind kürzlich im Pharmacogenomics Journal erschienen [4].
Drei Monate nach Operation zeigten sich dramatische Veränderungen u. a. bei 22 mikrobiellen Spezies und 11 Bakteriengattungen. Das markanteste Ergebnis war die Reduktion der Phyla Firmicutes (prä-/postoperativer Vergleich: 47,2/34,2%) und Bacteroidetes (46,9/44,7%), während es insbesondere bei Verrucomicrobia (0,65/5,37%) und Proteobacteria (2,68/13,74%) rasante Anstiege gab. Insgesamt resultierte aus den Verschiebungen eine deutliche Verbesserung der metabolischen Parameter. Die Ergebnisse stimmten mit den allgemeinen Erkenntnissen aus neueren experimentellen und klinische Studien überein.
„Anlass zur Euphorie besteht dennoch nicht“, sagt Erstautor Prof. Dr. med. Jürgen Gräßler zu Medscape Deutschland. „Langzeitergebnisse nach RYGB fehlen und die verstärkt hinzugekommenen Darmkeime sind potenzielle Impulsgeber für neue Krankheiten.” Das wollen die Dresdner nun weiter untersuchen. Prospektiv sind auf diesem neuen Forschungsgebiet spannende Erkenntnisse zu erwarten.