Nüchtern gemessenes Gesamtcholesterin, LDL (low density lipoprotein)-Cholesterin und HDL (high density lipoprotein)-Cholesterin unterscheiden sich nur minimal von den Werten, die nach Einnahme einer Mahlzeit ermittelt werden. Das Gleiche gilt zwar nicht für die Triglyzeride, aber zur Bestimmung des kardiovaskulären Risikos eines Patienten ist offenbar die in vielen Leitlinien empfohlene neun- bis zwölfstündige Abstinenz für Gesamtcholesterin- und HDL-Bestimmung nicht zwingend nötig.
Nüchtern kaum Unterschiede zu postprandial
Dies legt eine Studie von Davinder Sidhu und Christopher Naugler von der Universität von Calgary in Alberta, Kanada, nahe, die am 12. November online in den Archives of Internal Medicine erschienen ist. Die Wissenschaftler hatten Labordaten mit Angaben zur Dauer der Nüchternheit und der Lipidwerte von insgesamt 209 180 Teilnehmern ausgewertet. Dabei unterschieden sich die Durchschnittswerte des Gesamtcholesterins und des HDL-Cholesterins nur geringfügig, wenn die Nüchternwerte mit postprandialen Werten verglichen wurden.
Der Durchschnitt beim Gesamtcholesterin war nur um 2% unterschiedlich. Die LDL-C-Spiegel waren nach einer Mahlzeit im Schnitt 10% niedriger und die Triglyzeride um 20% höher als bei den nüchtern gemessenen Teilnehmern. Die Forscher bewerten dies als „geringfügige Assoziation“ der Cholesterin-Subfraktionen.
Hoher Aufwand für Nüchternmessung
In einem Editorial von Prof. J. Michael Gaziano vom Brigham und Women´s Hospital der Harvard Medical School in Boston vertritt dieser die Auffassung, dass der Informationsgewinn durch ein Nüchternblut-Profil zumindest beim Gesamtcholesterin und bei den HDL-Werten gering ist. Der Wissenszuwachs durch die Nüchternmessung würde nicht den Aufwand für Labor, Patient und Praxis rechtfertigen, wenn es etwa um die Kalkulation des kardiovaskulären Risikos geht. Ihm schwebt eine konkrete Praxissituation vor. Er präsentiert den Fall eines 62-jährigen Patienten, der zum Gesundheits-Check nachmittags um 15 Uhr in die Allgemeinarztpraxis kommt. Der Patient sei übergewichtig, habe zu hohen Blutdruck, aber keinerlei Beschwerden. Man bespricht Möglichkeiten der Gewichtsreduktion und der Blutdrucksenkung, dann kommt in einer Checkliste der Punkt Cholesterinwerte. Hier entstünde nun das Dilemma: den Patienten wieder einbestellen zur Nüchternblutabnahme oder einfach sofort Blutabnehmen, um den Cholesterinwert beim Verlassen der Praxis zu kennen? Gaziano spricht sich für die Sofortmessung aus, die dann auch ein greifbares Ergebnis zum Beispiel beim Ausfüllen des Framingham Risiko-Scores bringe. Der mäßige Grad an Ungenauigkeit, den dieses Verfahren bedeute, sei akzeptabel.
Wann ist Nüchternmessung nötig?
Freilich werden auch die Nachteile dieses Vorgehens in der Publikation thematisiert: Wenn die Senkung der Triglyzeride des Patienten das Ziel der Therapie ist, nützt dieses Vorgehen nichts. Hier ist auch die Variabilität der Werte von Bedeutung, die eine Nüchternmessung erforderlich macht. Auch wenn die Wirkung einer Therapie im Verlauf beobachtet werden soll, seien Nüchternwerte erforderlich. Damit spitzt sich diese Empfehlung auf eine spezielle Situationen zu, nämlich dann, wenn eine Cholesterinmessung seit langer Zeit nicht mehr erfolgt ist. Diese kann ohne Nüchternzustand erfolgen. Bereits 2009 hatte die britische Heart Foundation bei der Diskussion dieses Themas darauf hingewiesen, dass eine Messung ohne Nüchternheit nichts nützt wenn gleichzeitig mit der Cholesterinmessung auch eine Blutzuckermessung erforderlich ist.
Die Schwächen der Studie
In einem weiteren Kommentar von Dr. Amit V. Khera, Abteilung Innere Medizin und Dr. Samia Mora, Abteilung Präventive Medizin, beide ebenfalls von der Harvard Medical School in Boston, kommen auch Schwachpunkte der Studie zur Sprache. Die beiden Präventivmediziner halten fest, dass die untersuchte Population mit einem Durchschnittsalter von 53 Jahren relativ jung war und dass auch die durchschnittlichen Gesamtcholesterinwerte mit 183 mg/dl relativ niedrig waren. Die Ergebnisse seien deshalb nicht unbedingt auf Hoch-Risiko-Patienten übertragbar. Auch könne es bei Verwendung der Friedewald-Formel zur Berechnung des LDL-Wertes aus Gesamt- und HDL- Cholesterin bei einem größeren Anteil der Patienten (über 30%) zu falscher Klassifizierung kommen. Sie raten ferner davon ab, bei Triglyzeriden über 400 mg/dl mit dem postprandialen Cholesterinwert zu arbeiten.
Abweichende Resultate bei Frauen
In einer Auswertung der Women´s Health Study hatte sich bei 26 339 gesunden Frauen gezeigt, dass der Unterschied zwischen Nüchternblut-Messung und postprandial bis zu 5% beim Gesamtcholesterin betragen hat. Grund genug, eine Studie zu fordern, die die verschieden gemessenen Cholesterinwerte in Beziehung zu kardiovaskulären Endpunkten setzen sollte.
Wie die Praxis in Deutschland aussieht
Wie Prof. Ulrich Laufs vom Universitätsklinikum Bad Homburg im Gespräch mit Medscape Deutschland sagte, sind die postprandialen Abweichungen für die Mehrheit der Patienten im Hinblick auf Therapiekonsequenzen vernachlässigbar. Eine Ausnahme bilden aber – wie erwähnt - alle Triglyzerid-Probleme. „Für Patienten mit erhöhten Triglyzeriden benötigen wir aufgrund des postprandialen Anstieges Nüchtern-Werte.“ Und: „Bei TG höher als 400 stimmt die Friedewald-Formel nicht mehr und der LDL-C-Spiegel sollte direkt bestimmt werden.“ Laufs sieht keinen Anlass, die bisherigen europäischen Leitlinien zu ändern. Diese raten dazu, „falls möglich Nüchternblut nach 12 Stunden zu verwenden, welches aber nur für die Bewertung der Triglyzeride erforderlich ist.“ Und: „Nüchternheit ist gemäß Leitlinien nötig, wenn auch die Blutglukose im Rahmen des Screening-Programms ermittelt werden soll.“
Laufs persönlicher Rat: „Ich selber mache es in meiner Lipidambulanz so - und das sind selektionierte Patienten – einmal Nüchternbestimmung als Basis, wenn die Triglyzeride nicht erhöht sind, im weiteren nicht-nüchterne Verlaufskontrollen“.