Das Vitamin-D-Dilemma

Andrea S. Klahre | 20. November 2012

Autoren und Interessenskonflikte

Anfang November erschien im Canadian Medical Association Journal eine bemerkenswerte Analyse aus den Niederlanden: 1.038 Angehörige aus Familien, deren Mitglieder sehr alt (>90 Jahre) werden, hatten im Vergleich zu ihren Lebenspartnern (n=461) nicht nur niedrigere Vitamin-D-Spiegel (64,3 nmol/l bzw. 25,8 ng/ml vs 68,4 nmol/l bzw. 27,4 ng/ml), sondern auch eine niedrigere Frequenz einer Variante im CYP2R1-Gen, die zu einem hohen Vitamin-D-Spiegel prädispositioniert [1].

 
Zu wenig Vitamin D sei nicht Ursache schlechter Gesundheit, sondern Symptom.
 

Raymond Noordham, MSc, vom Department of Gerontology and Geriatrics am University Medical Center in Leiden, und Kollegen bezweifeln seither, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen einer niedrigen Serumkonzentration des 25-Hydroxy-Vitamin D (25-OHD) und der Entstehung verschiedener chronischer (Alters-assoziierter) Erkrankungen sowie dadurch bedingtem erhöhten Mortalitätsrisiko gibt. Zu wenig Vitamin D sei nicht Ursache schlechter Gesundheit, sondern Symptom.

Dabei ist Vitamin D im Moment der große Renner. Mehrere neuere Publikationen preisen es als eine über die muskuloskelettale Wirkung hinausgehende Allzweckwaffe, die von der Wiege bis zum Grabe präventiv sowohl gegen Mamma-, Prostata-, Kolonkarzinom, Diabetes, Multiple Sklerose, Pneumonien, Herzkreislauf-, Immun- und Infektionskrankheiten wirken könnte. Vitamin D für alle, und wenn ja, wie viel? lautet die logische Frage. Allerdings nicht grundsätzlich. Andere Studien gelangen zu differenzierteren Ergebnissen und sind mit Empfehlungen zurückhaltend.

Die beiden wichtigsten Formen des fettlöslichen Steroidhormons Vitamin D3 (Cholecalciferol, Colecalciferol oder Calciol) und Vitamin D2 (Ergocalciferol) werden durch Sonnenexposition bzw. Aufenthalt an frischer Luft oder alimentär (Fettfische, Pilze, Eier, Avocado, Milch-, Milchprodukte) zunächst in 25-OHD, dann in aktive Formen synthetisiert, z. B. in Alphacalcidiol und Calcitriol. International gilt ein Spiegel >30 ng/ml als optimal, 20-29 ng/ml werden als ausreichend angesehen, <20 ng/ml liegt ein mehr oder minder schwerer Mangel vor.

Die D-A-CH-Referenzwerte für die tägliche Vitamin-D-Zufuhr wurden vor einigen Monaten entsprechend erhöht: Für Kinder, Jugendliche und Erwachsene liegen sie nun bei 20 ng/ml. Das entspricht 50 nmol/l oder 800 I.E. Säuglinge benötigen 10 ng bzw. 400 I.E. „Die Differenz zum Schätzwert muss über die endogene Synthese und/oder über die Einnahme eines Vitamin-D-Präparats gedeckt werden“, heißt es in der Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). Bei häufiger Sonnenbestrahlung könne die gewünschte Versorgung ohne die Einnahme eines Präparats erreicht werden. Doch das scheint schwierig zu sein, rund 60% der Deutschen erreichen laut DGE die empfohlene Tagesdosis nicht.

Zumindest während der Wintermonate

„Es mehren sich die Empfehlungen, zur Vermeidung des isolierten Vitamin-D-Mangels alle Kinder und Jugendlichen mit 400 I.E. Vitamin D3 täglich zumindest während der Wintermonate zu behandeln“, sagte Dr. med. Dorothée Schmidt, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Lübeck, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, anlässlich der 108. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin im September in Hamburg [2]. Nebenwirkungen seien bei dieser Dosierung nicht zu befürchten. Chronisch kranke Kinder und Jugendliche sollten mindestens einmal jährlich eine laborchemische Beurteilung des Knochenstoffwechsels erhalten und basierend auf dem Befund adäquat therapiert werden.

Ein Pädiater aus dem Auditorium konterte mit dem Zitat eines Vaters, wonach „man inzwischen ja schon als Rabeneltern gilt, wenn man sein – gesundes – Kleinkind nicht mit Vitamin D substituiert, sondern es auch draußen toben lässt, wenn´s kalt ist.“

Tatsächlich sind positive Effekte einer zusätzlichen Supplementation in einer Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) derzeit nur in bestimmten Fällen gesichert: zur Prävention von Rachitis bei Säuglingen, bei osteoporose- und sturzgefährdeten Senioren (insbesondere Heimbewohnern), für Patienten mit Osteomalazie, chronischer Niereninsuffizienz, Nebenschilddrüsenschwäche. Zusammen mit Kalzium gehört Vitamin D zudem zur Basistherapie von Osteoporose.

Zur pleiotropen Wirksamkeit liegen nicht genügend valide Daten aus großen Interventionsstudien vor, der breiten Gabe von Vitamin D fehlt eine evidenzbasierte Grundlage. Beispielsweise ergab eine Metaanalyse von Dezember 2011 keine robusten Daten für tumorpräventive Effekte [3]; in der RECORD-Studie mit 5.292 rund 70-jährigen Teilnehmern bewirkten 800 I.E. Vitamin D3 und/oder 1.000 mg Kalzium pro Tag keinen Schutz vor Herztod, Krebserkrankung oder Krebstod [4]. Ein Kommentar im JAMA legte dar, warum die Evidenz für ein reduziertes Risiko von Herz-Kreislauferkrankungen oder Diabetes durch Vitamin D gering ist [5]. Eine Cochrane-Analyse ließ keine Rückschlüsse auf die Herz-Kreislauf-Mortalität zu, die Krebssterblichkeit nahm insgesamt nicht signifikant ab. Gleichwohl waren Nephrolithiasen unter der Kombination Vitamin D3 plus Kalzium signifikant erhöht, ebenso Hyperkalzämien unter Alphacalcidiol und Calcitriol [6].

 
„Bevor man Vitamin D vorbeugend bei großen Bevölkerungsgruppen einsetzt, bleibt abzuwarten, ob sich die zahlreichen Hinweise ... bestätigen werden oder nicht.“
 

„Bevor man es vorbeugend bei großen Bevölkerungsgruppen einsetzt, bleibt abzuwarten, ob sich die zahlreichen Hinweise aus Assoziations-, Observations- und epidemiologischen Studien sowie kleineren randomisierten, prospektiven Untersuchungsreihen bestätigen werden oder nicht“, so Prof. Dr. med. Helmut Schatz, em. Direktor der Medizinischen Universitätsklinik Bergmannsheil der Ruhr-Universität Bochum, und Mediensprecher der DGE.

Zwei große Studien mit Vitamin D und Omega-3-Fettsäuren bei Männern und Frauen 50+

Zurzeit sind 2 große Studien angelaufen, die die Wirksamkeit von Vitamin D und Omega-3-Fettsäuren in der (Primär-) Prävention evaluieren wollen. Die amerikanische Studie VITAL (VITamin D and OmegA-3 TriaL) wird die Risikoreduktion von täglich 2.000 I.E. Vitamin D3 bzw. 1 Gramm Fischöl in Kapseln auf Krebs- und kardiovaskuläre Erkrankungen untersuchen. Geplant ist die Aufnahme von 20.000 Frauen und Männern im Alter 50+, die Studie läuft bis 2016.

Die Studie DO-HEALTH (Vitamin D3 – Omega 3 – Home Exercise – Healthy Ageing and Longevity Trial and Health Economic Impact Evaluation) ist ein multizentrisches EU-Projekt: 8 Universitätskliniken in Zürich, Basel, Genf, Toulouse, Innsbruck, Nürnberg, Coimbra und Berlin untersuchen bei insgesamt 2.152 zuhause lebenden Männern und Frauen >70 Jahre (1.076 mit, 1.076 ohne Sturz in den letzten 12 Monaten), ob Vitamin D, Omega-3-Fettsäuren und ein zuhause durchführbares Bewegungsprogramm chronische Erkrankungen und funktionellen Abbau verhindern können. Studienende wird 2018 sein.

Die Studienleiterin, Prof. Dr. med. Heike Bischoff-Ferrari, Direktorin des Zentrums für Alter und Mobilität der Universität Zürich, sagte zum Start der Studie im Februar dieses Jahres: „Mehrere Studien haben gezeigt, dass Vitamin D und einfache gezielte Trainingsprogramme die funktionale Beweglichkeit verbessern können und sowohl Stürze als auch Knochenbrüche bei Senioren signifikant verringern, sogar um bis zu 30 Prozent. Auch Omega-3 bringt signifikante gesundheitliche Vorteile für Senioren. DO-HEALTH hofft, die zuverlässige Evidenz liefern zu können, dass die drei Interventionen, allein oder kombiniert, die Anzahl an Frakturen, den funktionellen und kognitiven Rückgang, das Risiko von Bluthochdruck sowie das Risiko für Infektionen in der älteren Bevölkerung reduzieren können.“

Mit derart einfachen, kosteneffektiven Strategien ließe sich sicherzustellen, dass Senioren unabhängige und aktive Mitglieder der Gemeinschaft bleiben.

Referenzen

Referenzen

  1. Nordham R et al. CMAJ (online) 5. November 2012
    http://dx.doi.org/10.1503/cmaj.120233
  2. 108. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V. (DGKJ). 13.-16. September 2012, Hamburg. Schmidt, D: Abstract DGKJ-SY-029 www.dgkj2012.de
  3. Mei Chung et al. Ann Intern Med 2011, 155: 827-838
    https://annals.org/article.aspx?articleid=1033222
  4. Avenell A et al. JCEM 2012; 97(2): 614-622 http://jcem.endojournals.org/content/97/2/614
  5. Shapses SA et al. JAMA 2011, 305: 2565-2566 http://dx.doi.org/10.1001/jama.2011.881
  6. Bjelakovic G et al. Cochrane Database Syst Rev 2011 Jul 6; (7): CD007470 www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/21735411
  7. Manson JE, MD, Brigham and Women's Hospital: Vitamin D and Omega-3 Trial (VITAL) http://clinicaltrials.gov/show/NCT01169259

Autoren und Interessenskonflikte

Andrea S. Klahre
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Noordham, Schatz, Bischoff-Ferrari
Es liegen keine Erklärungen zu Interessenkonflikten vor.

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