
Hamburg – Die neuen europäischen Leitlinien zum akuten Myokardinfarkt wurden in der zweiten Jahreshälfte 2012 publiziert. Sie lassen sich derzeit kostenlos aus dem Internet herunterladen, auch in der Form einer Pocket-Leitlinie und einer Sammlung von „Key Messages“. Was in der Leitlinie der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) neu ist, das hat Prof. Dr. Christian Hamm, Direktor der Abteilung für Kardiologie an der Kerckhoff-Klinik Bad Nauheim und an der Medizinischen Klinik 1 des Universitätsklinikums Gießen auf der Herbsttagung der deutschen Kardiologengesellschaft (DGK) Mitte Oktober in Hamburg erläutert.
Was ist neu beim Myokardinfarkt?
Die Echokardiografie wird nun für die Frühdiagnose beim ST-Streckenhebungsinfarkt (STEMI) empfohlen. „Bildgebende Verfahren sind damit weiter aufgewertet worden“, so Hamm. Hintergrund dieser Neuerung: Es existieren inzwischen sehr kompakte Echogeräte, die auch den Einsatz in der Akutsituation erlauben. Lungenembolie oder Perikarderguss können durch diese Diagnostikmöglichkeit erkannt werden. „Damit steht uns ein wichtiges Werkzeug zur Verfügung, um früher als bisher Differenzialdiagnosen zu erheben.“ In der Leitlinie wird allerdings auch festgelegt, dass diese empfohlene Maßnahme den weiteren Transport des Herzinfarktpatienten und dessen Verlegung nicht behindern darf. Das heißt: Es soll nicht auf ein Ergebnis der ambulanten Echokardiografie gewartet werden, sondern diese sollte nur erfolgen, wenn es die jeweilige Situation zulässt. „Denn die Herzinfarktpatienten gehören so bald wie möglich und ohne weitere Verzögerung ins Katheterlabor, damit ein verschlossenes Gefäß wieder eröffnet werden kann.“
Organisatorische Hinweise in den Leitlinien
Ganz grundsätzlich fordern die Leitlinien die Organisation von lokalen STEMI-Netzwerken mit Ambulanz-Service, sowie angeschlossenen Krankenhäusern, die über eine PCI-Bereitschaft verfügen. Die Leitlinien enthalten für das therapeutische Vorgehen einen Entscheidungsbaum für die Behandlung von Patienten mit ST-Streckenhebung. In den Leitlinien sind ein Katheterlabor- und ein Lyse-Algorithmus gegenübergestellt. „In Deutschland interessiert uns nur die Katheterseite, nicht die Lyse-Seite!“ so Hamm. „Wir sind in Deutschland die Weltmeister im Herzkathetern und auch die Weltmeister in der Zahl der Herzkatheterlabors!“ Denn die Erfahrung habe gezeigt, dass die kathetergestützte Therapie von Patienten mit Herzinfarkt besser ist als die Lyse. Die Thrombolyse und die Fibrinolyse seien beim akuten Herzinfarkt hierzulande nur noch in Ausnahmefällen von Bedeutung. Jeder Herzinfarktpatient in Deutschland kann in akzeptabler Zeit in ein Herzkatheterlabor eingeliefert werden – vorausgesetzt natürlich, dass das Herzkatheterlabor an sieben Tagen in der Woche eine 24-Stunden-Bereitschaft anbiete.
Ohne Umwege ins Katheterlabor
Die Leitlinie legt fest, dass die Patienten in jedem Fall direkt ins Herzkatheterlabor gebracht werden. Vermieden werden soll der Umweg über ein Krankenhaus, das kein entsprechendes Labor hat. Die Logistik muss so aufgebaut sein, dass der Notarzt vor Ort in der Wohnung des Patienten entscheidet, ob es sich um einen Herzinfarkt handelt. Ohne Umwege und direkt sollt dann eine Überstellung ins Herzkatheterlabor erfolgen. „Alles andere ist Zeitverlust!“ „Und den wollen wir so niedrig wie möglich halten. Denn: Time is muscle!“ Schwachstellen in der Versorgung von Herzinfarktpatienten kommen nach Hamm dann zustande, wenn Ärzte anderer Fachgebiete als Notärzte Dienst tun und diese dann nicht im Bilde darüber sind, dass bei Verdacht auf Herzinfarkt sofort ein Katheterlabor angefahren werden muss - und nicht etwa irgendein Krankenhaus ohne diese Möglichkeiten. „In unserer Region wird dieses Verhalten sogar geahndet: wer zweimal einen Patienten mit ST-Streckenhebung nicht direkt ins Katheterlabor gefahren hat, der wird vom Notarztdienst suspendiert“, erklärte Hamm.
Zeitvorgaben für die Prähospitalzeit sind sehr ambitioniert
Die Zeitvorgaben der europäischen Leitlinie sind zwar für Europa neu, in der deutschen Leitlinie sind sie jedoch schon seit 2006 enthalten,. Es handelt offenbar auch um eine textliche Übernahme aus den bereits älteren deutschen Leitlinien. Wichtigster Eckpunkt: Innerhalb von zehn Minuten, nachdem ein Arzt den Patienten gesehen hat, muss das EKG geschrieben sein. Die Pforte-Ballon-Zeit (door-to-balloon) sollte unter 60 Minuten liegen. Die Zeit vom ersten Kontakt mit dem medizinischen System bis zum Katheterlabor sollte idealerweise unter 90 Minuten liegen. Unter 60 Minuten sind angeraten, wenn es sich um einen großen Herzinfarkt handelt. „Das ist natürlich sehr ambitioniert“, kommentierte Hamm. Noch akzeptiert werden von den Leitlinien, wenn das ganze Prozedere unter 120 Minuten liegt. „Wenn das Zeitintervall für die Erstversorgung eines Herzinfarktpatienten länger werden sollte, sollte man besser lysieren“, rät der Experte.
Katheter über Leiste oder Armarterien?
Auch die technischen Aspekte einer Erstversorgung werden berücksichtigt. Wenn kathetert wird und das Team geübt ist, sollte vorzugsweise ein Zugang über die Armarterie gewählt werden. „Das gilt aber nur, wenn eine entsprechende Expertise vorliegt!“ Das heißt: Wenn das Team nicht geübt ist, sollte weiter der femorale Zugang gewählt werden. Komplikations- und Blutungsraten sind aber beim radialen Zugang verringert. Es gibt in einem längeren Zeitverlauf sogar eine verringerte Mortalität, wenn über die A. radialis statt über die A. femoralis der Zugang zu den verschlossenen Koronarien gewählt wird. „In meiner Institution haben wir gerade das Verfahren auf Radialiszugang umgestellt, wir üben jetzt und wir machen auch gute Erfahrungen. Auch andere Kliniken sind dabei, sich umzustellen,“ erläuterte Hamm die Situation an deutschen Kliniken
Medikamente freisetzende Stents werden empfohlen
Wichtig sei, dass in der Akutsituation Medikamente freisetzende Stents (drug-eluting stent, DES) im Vergleich zu den reinen Metallstents bevorzugt werden. Der Empfehlungsgrad der Leitlinien ist eine IIa-Empfehlung. Gerade Patienten mit einer großen Thrombusmenge profitieren von einem Medikamente freisetzenden Stent Eine Ausnahme bilden Patienten, die Kontraindikationen gegen die duale Plättchenhemmung haben. Bei ihnen sollten reine Metallstents verwendet werden. Das sind in aller Regel Patienten, bei denen in der Anamnese bereits ein erhöhtes Blutungsrisiko aufgrund anderer Erkrankungen besteht.
Mit speziellen Kathetern können inzwischen die bei der Prozedur abgehenden Thromben aspiriert und damit eingefangen werden. Auch für eine solche Prozedur gibt es eine IIa-Empfehlung, die aber eine gewisse Zurücknahme des bisherigen Empfehlungsgrades darstellt. In der Anfangsphase dieses Verfahrens war der Empfehlungsgrad wesentlich höher angesiedelt, so Hamm. „Should be considered“ heißt es in den Leitlinien nun, so dass man bei Patienten mit großer Thrombusmenge im Gefäß an eine solche Behandlung denken sollte.
Empfehlungen nach Herzstillstand
Auch für wiederbelebte Patienten nach einem Herzstillstand gibt es erstmals präzise Empfehlungen. Diese Patienten sollten gekühlt werden, also therapeutische Hypothermie erhalten. Es ist inzwischen erwiesen, dass das neurologische Ergebnis bei diesen Patienten durch eine Hypothermie verbessert wird. Patienten, die reanimiert worden sind, sollten auch angiografiert werden. Man geht davon aus, dass die meisten mit Herzstillstand ein Rhythmusereignis hatten und eventuell ein Herzinfarkt auf der Basis einer koronaren Herzerkrankung dahinterstand. Deswegen sei die Indikation zur Angiografie in dieser Situation großzügiger zu stellen als bisher.
Neuerungen in der plättchenhemmenden Therapie
In der dualen plättchenhemmenden Therapie mit ASS gibt es Veränderungen, weil zwei neue Substanzen auf den Markt gekommen sind. Prasugrel (Efient®) und Ticagrelor (Brilique®) sind in die Leitlinien aufgenommen worden. Bei Prasugrel besteht die Einschränkung, dass die Patienten nicht mit Clopidogrel vorbehandelt sein dürfen, sie dürfen keinen Schlaganfall in der Anamnese haben, sie sollen unter 75 Jahre alt sein und über 60 Kilogramm Körpergewicht haben. Bei Ticagrelor gibt es diese Einschränkungen nicht. Clopidogrel sollte nur noch gegeben werden, wenn die beiden neuen Substanzen nicht zur Verfügung stehen. In Studien hat sich gezeigt, dass die beiden neuen Substanzen bei den harten klinischen Endpunkten Clopidogrel überlegen sind, kommentierte Hamm. Vergleiche zwischen Ticagrelor und Prasugrel existieren derzeit nicht. „Wir können deswegen keine bevorzugten Indikationen für die beiden neuen Substanzen nennen“, meinte Hamm. In laufenden Studien werden derzeit die Langzeiteffekte untersucht.
Noch ACE-Hemmer nach Myokardinfarkt?
Bisher erhielten alle Postinfarktpatienten ACE-Hemmer. Das wurde so nicht aufrecht erhalten. Gemäß den neuen Leitlinien sollten nun nur noch diejenigen Patienten ACE-Hemmer erhalten, bei denen eine Einschränkung der linksventrikulären Funktion besteht. Verträgt der Patient den ACE-Hemmer nicht, kann in dieser Situation alternativ auch Sartan gegeben werden.
Empfohlen werden nach Infarkt und bei eingeschränkter linksventrikulärer Funktion auch Aldosteron-Antagonisten wie Eplerenon (Inspra®). Hier besteht sogar der Empfehlungsgrad I, falls die linksventrikuläre Funktion weniger als 40 Prozent beträgt.
Auch Betablocker werden zurückgestuft
Ebenfalls verändert wurde die Indikation für Betablocker. Nach den neuen Leitlinien soll nicht mehr unbedingt jeder Postinfarktpatient einen Betablocker erhalten, selbst wenn die Datenlage für diese Einschränkung noch relativ dünn ist. Neben der Indikation Herzinsuffizienz haben die Betablocker auch in verschiedenen anderen Indikationen ihren alten Stellenwert eingebüßt. „Eigentlich haben wir heute genau die gegenteilige Situation, wie vor 20 Jahren: Damals wurden die Betablocker in vielen Indikationen bevorzugt, nur nicht bei Herzinsuffizienz. Heute haben sie bei der Herzinsuffizienz ihre Hauptindikation“, so Hamm.
Statine auch ohne LDL-Wert-Bestimmung geben
Bei den Postinfarkt-Patienten sollte so früh wie möglich ein Lipidprofil bestimmt werden. Aber auch unabhängig vom Cholesterinwert gilt eine Ia-Empfehlung für die Behandlung mit hochdosiertem Statin, absierend auf den Ergebnissen unterschiedlicher Studien mit Postinfarkt-Patienten. Prof. Hamm rät Hausärzten deshalb zu beachten, dass Postinfarkt-Patient nach der Entlassung in aller Regel mit einem hochdosierten Statin in die Praxis kämen. Sie sollten die Cholesterinwerte alle vier bis sechs Wochen kontrollieren, um dann einen LDL-Cholesterinwert von unter 70 mg/dl zu erreichen. Diese Empfehlung der Leitlinie werde derzeit zu selten umgesetzt, weshalb Ärzte dieses Ziel noch mehr in den Fokus rücken müssten.
Haben GPIIb/IIIa-Antagonisten noch eine Bedeutung?
GPIIb/IIIa-Antagonisten als synthetische Hemmstoffe des Glykoprotein IIb/IIIa-Rezeptors der Thrombozyten sind bei denjenigen Patienten relevant, die einen Thrombus haben. „Man kann es auch im dem Notarztwagen geben“, sagte Hamm. Es ist mit einer IIb-Empfehlung versehen und hat vermutlich einen guten Nutzen bei all jenen Patienten, die bis zu zwei Stunden nach den ersten Symptomen in die Klinik kommen (early presenter). Wer sich in den ersten zwei Stunden mit einem STEMI in der Klinik vorstellt, hat von diesen Substanzen auch einen klinischen Gewinn. Tirofiban, (Aggrastat®) und Eptifibatid (Integrilin®) seien mindestens genauso gut wie das hochpreisige Abciximab (RheoPro®).
Wie lange Postinfarkt-Patienten im Krankenhaus bleiben sollen
In den europäischen Leitlinien gibt es eine relativ ambitionierte Vorstellung über den Verbleib der Patienten im Krankenhaus, so Hamm. Offenbar sind hier die Niederlande das Vorbild, wo die Patienten nur 24 Stunden auf der Intensivstation bleiben. Weitere 24 bis 48 Stunden werden dann als Aufenthalt in einer intermediate care-Station empfohlen. Ist der Verlauf unkompliziert, können – gemäß Leitlinie – die Patienten nach 72 Stunden nach Hause entlassen werden, wobei unter „nach Hause“ in Deutschland eine Rehabilitationsmaßnahme gemeint sein kann. Eine Kurzumfrage in der Leitlinien-Kommission hatte ergeben, „dass keiner der Kollegen die Herzinfarktpatienten bereits nach drei Tagen in die Reha oder wieder nach Hause gehen lässt“. In den Diagnosebezogenen Fallgruppen (diagnosis related group, DRG) ist derzeit eine Zielvorgabe für Kliniken von acht Tagen vorgegeben. Nach den neuen Leitlinien ist es nun möglich, Patienten nach einem unkomplizierten Herzinfarkt bereits nach drei Tagen in eine Rehabiliation zu verlegen. „Unkompliziert“ wäre laut Hamm zum Beispiel der Fall eines Patienten, der eine Intervention an einer Läsion der Koronararterie hatte. Die 72 Stunden sind eine IIb-Empfehlung. Es wäre also vertretbar sich daran zu halten, die Empfehlung stellt aber keinesfalls ein Muss dar und gilt ohnehin nur für ausgesuchte Patienten, im Idealfall in Verbindung mit dem Start einer kardiovaskulären Rehabilitationsmaßnahme.
Was trägt am meisten zur Verbesserung bei?
Auf der Pressekonferenz in Hamburg wurde Prof. Christian Hamm zu weiteren Maßnahmen zur Verbesserung der Ergebnisse für Patienten mit ST-Hebungsinfarkt gefragt. Seine Einschätzung:
1. Es wird immer noch relativ häufig Clopidogrel verwendet. Clopidogrel ist aber sowohl dem Ticagrelor als auch dem Prasugrel unterlegen. Hier bestehe Potenzial für therapeutische Verbesserungen.
2. Statine sollten noch häufiger zum Einsatz kommen. „Die Forderungen aus den Leitlinien sind noch nicht ausreichend umgesetzt“, kommentierte Hamm.
3. Die größte Diskrepanz zwischen den Empfehlungen der Leitlinien und der Versorgungsrealität in Deutschland bestehe bei der Nutzung des Bivalirudin (Angiox®). Dieser plasmatische Gerinnungshemmer wird als Substanz der ersten Wahl empfohlen – anstelle von unfraktioniertem Heparin oder niedermolekularer Heparine wie Enoxaparin. In Deutschland erhält derzeit weniger als jeder zehnte Patient diese Substanz, was ein extrem niedriger Wert sei. Allerdings beruhe die Empfehlung für Bivalirudin erst auf einer einzigen klinischen Studie, so dass diese Zurückhaltung im Augenblick noch eine gewisse Berechtigung habe.