Der monoklonale Antikörper Alemtuzumab ist derzeit ein Objekt vieler Begierden – und Spekulationen. Nachdem er als Krebsmedikament zurückgezogen wurde, wird er nun als Medikament gegen die Multiple Sklerose ins Spiel gebracht.
So hat er sich in 2 Phase-3-Studien insbesondere als wirksam bei der remittierend-relapsierenden Form der Multiplen Sklerose (MS) erwiesen und im Vergleich zur Standardtherapie mit Interferon beta-1a bessere Ergebnisse erzielt.
An den beiden Studien CARE-MS I und CARE-MS II, deren Ergebnisse jetzt in der Fachzeitschrift Lancet veröffentlicht wurden, haben insgesamt 1.248 MS-Patienten teilgenommen. Sie erhielten randomisiert entweder Interferon oder Alemtuzumab und wurden über jeweils 2 Jahre hinweg nachbeobachtet. Während die Patienten in der CARE-MS I-Studie nicht vorbehandelt waren, hatten die Teilnehmer von CARE-MS II zuvor entweder Interferon beta-1a oder Glatiramer bekommen und unter diesen Arzneien mindestens einen Krankheitsschub erlitten.
Alemtuzumab tötet spezifische Leukozyten ab
Das ursprünglich gegen eine spezielle Form von Leukämien entwickelte Alemtuzumab tötet spezifisch jene Leukozyten ab, die das Antigen CD52 tragen. Das dezimiert insbesondere diejenigen Immunzellen, die bei der MS die Myelinscheide der Nervenfasern angreifen.
In der Studie CARE-MS I hatten 2 Drittel der Patienten zunächst an 5 aufeinander folgenden Tagen Infusionen mit jeweils 12 mg Alemtuzumab erhalten, und 12 Monate später einen weiteren Behandlungszyklus von 3 Tagen. Interferon beta-1a wurde dagegen während des gesamten Studienzeitraumes dreimal pro Woche in einer Dosis von 44 µg subkutan gespritzt.
Einen Krankheitsschub erlitten in diesem Zeitraum 40 % der Patienten unter Interferon beta-1a, aber nur 22% mit Alemtuzumab. Was die Zunahme der Behinderungen angeht, zeigte sich Alemtuzumab mit 8 versus 11% als nicht signifikant überlegen.
Bei der CARE-MS II-Studie hatte man ursprünglich auch Alemtuzumab in einer Dosierung von 24 mg testen wollen, diesen Studienarm aber abgebrochen, so dass hier die gleichen Schemata für die Therapie mit Interferon beta-1a und Alemtuzumab verglichen wurden wie bei CARE-MS I. Bei diesen Patienten, die bereits unter Therapie standen und einen Krankheitsschub erlitten hatten, kam es unter Interferon beta-1a bei 51% zu einem erneuten Relaps, unter Alemtuzumab waren es hingegen 35%.
Eine Zunahme der Behinderung um mindestens 1 Punkt auf der Skala EDSS (bzw. = 1,5 für einen Anfangs EDSS von 0) sahen die Studienärzte bei 20% der Patienten, die Interferon beta-1a bekommen hatten – das war signifikant schlechter als die 13% unter Alemtuzumab.
„Wir haben gezeigt, dass Alemtuzumab funktioniert, wo First-Line-Therapeutika bereits versagt haben“, kommentierte Prof. Dr. Alastair Compston vom Department of Clinical Neurosciences der Universität Cambridge in Großbritannien, der beide Studien geleitet hat. „Es reduziert nicht nur die Wahrscheinlichkeit für MS-assoziierte Behinderungen, sondern könnte sogar zu langfristigen klinischen Verbesserungen führen“, so Compston.
Alemtuzumab eher zur Eskalationstherapie geeignet
„Alemtuzumab ist eine spannende Substanz und eine der wirksamsten gegen die MS“, bekräftigte Prof. Dr. med Hans-Peter Hartung, Direktor der Neurologischen Klinik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, gegenüber Medscape Deutschland. Der an beiden Studien beteiligte Wissenschaftler sieht den Antikörper aber trotz der guten Ergebnisse zunächst nicht als potentielles First-LineTherapeutikum.
Wegen der bekannten Nebenwirkungen und der Unkenntnis im Hinblick auf mögliche langfristige Einflüsse auf das Immunsystem sei das Präparat wohl eher zur Eskalationstherapie geeignet, sagte Hartung. Denkbar sei auch, Alemtuzumab bei aggressiven Formen der MS zuerst zu verabreichen und anschließend zur Erhaltungstherapie auf ein anderes Präparat zu wechseln.
Außer Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Hautausschlägen und Pyrexien, die bei 90 % der Patienten unter der Infusionstherapie mit Alemtuzumab aufgetreten waren, kam es auch im Vergleich zu Interferon beta-1a in beiden Studien häufiger zu Infektionen (67% vs. 45%, bzw. 77% vs. 66%). Herpesinfektionen waren unter Alemtuzumab mit 16% achtfach häufiger gewesen als unter der Vergleichsarznei, so dass man noch im Laufe der Studie dazu übergegangen war, während und bis 28 Tage nach der Gabe des Antikörpers zusätzlich Aciclovir zu verabreichen.
Nebenwirkung: Schilddrüsenfunktionsstörungen und andere Autoimmunerkrankungen
Zu den Nebenwirkungen des Alemtuzumab gehören offenbar auch Autoimmunerkrankungen, insbesondere Störungen der Schilddrüsenfunktion. Diese wurden bei 16% der Patienten beobachtet. Auch fand man 4 Karzinome, und 6 Studienteilnehmer erkrankten an einer Thrombozytopenie. Hartung hält deshalb die Einrichtung von Risikomanagement-Programmen begleitend zur MS-Therapie mit Alemtuzumab für geboten.
Diese Meinung teilt auch Prof. Dr. Ralf Gold, Direktor der Neurologischen Klinik St. Josef Hospital / Klinikum der Ruhr Universität Bochum: „Man muss die Patienten sicher sehr sorgfältig nachbeobachten - das ist aber in Industrienationen gut machbar.“
„Alemtuzumab ist sicher ein sehr gutes Medikament für Patienten mit hochaktiver MS, in frühen Phasen der Erkrankung“, kommentierte der Neurologe, der erst kürzlich als Leiter der DEFINE-Studie die Wirksamkeit des oralen Fumarsäure-Präparates BG-12 gegen die schubförmige MS belegen konnte. Alemtuzumab habe seine Überlegenheit gegenüber den Interferon-Päparaten deutlich gezeigt. Ob aber die europäische Zulassungsbehörde EMEA den Antikörper als First-Line Therapie genehmigen werde, sei reine Spekulation.
Ist Alemtuzumab Spielball einer Marktstrategie?
Angesichts der in Kürze erwarteten Zulassung hat sich anonym ein Editorial im Lancet kritisch mit der Marketingstrategie des Herstellers Genzyme auseinander gesetzt, der zur Firma Sanofi gehört. Genzyme hat nämlich kürzlich Alemtuzumab als Krebsmedikament in den USA und in Europa vom Markt genommen. Befürchtet wird nun, dass man mit diesem Manöver einen wesentlich höheren Preis für Alemtuzumab in der MS-Therapie durchsetzen will, als er in der Behandlung der Leukämie erzielt wurde.
Alemtuzumab könne dann für viele MS-Patienten und die Gesundheitssysteme der betroffenen Länder zu teuer werden, wird in diesem Editorial gemutmaßt. Schon jetzt könne die Unterbrechung des Nachschubs für Patienten, die Alemtuzumab bereits erhalten haben, dazu führen, dass ihnen der unerlässliche zweite Zyklus vorenthalten bleibt.