
Prof. Dr. med. Ulrike Korsten-Reck ist Oberärztin an der Abteilung Rehabilitative und Präventive Sportmedizin in der Medizinischen Universitätsklinik Freiburg. Sie hat 1987 das Therapieprogramm FITOC (Freiburg Intervention Trial for Obese Children) für übergewichtige Kinder zwischen 8 und 11 Jahren und für Jugendliche von 12 – 16 Jahren gegründet, das bundesweit zu weiteren Gruppengründungen geführt hat. Ziel von FITOC ist die ambulante Behandlung stark übergewichtiger Kinder und Jugendlicher mittels langfristig angelegter, interdisziplinärer Intervention. Im Interview mit Medscape Deutschland äußert sie sich zu den Studienergebenissen von Dr. Brad Metcalf und seinen Kollegen: „Physical activity interventions for children have “little impact” [1,2], über die wir in Medscape Deutschland bereits berichtet hatten.
Medscape Deutschland: Wie schätzen Sie die Studienergebnisse ein?
Prof. Korsten-Reck: Adipositas und Übergewicht sind sehr komplex. Die Studie von Herrn Metcalf und seinem Team wird dieser Komplexität nicht gerecht, da wurde stark simplifiziert. Adipöse sind in einem Teufelskreis: Sie essen zu viel, das ist ihr Problem und gleichzeitig versuchen sie über essen, ihre Konflikte zu lösen. Ist man übergewichtig, treibt man weniger Sport, wird noch dicker, isst aus Kummer noch mehr, treibt noch weniger Sport.
Für diesen Kreislauf greift die Meta-Analyse zu kurz. Und auch der Körperkomposition wird keine Aufmerksamkeit gewidmet. Der Frage wie hoch ist zum Beispiel bei 2 Kindern mit gleichem BMI die Fettmasse, wie sieht die Energiebilanz aus? Wie sieht die körperliche Aktivität aus? Das ist in der Studie unzureichend berücksichtigt.
Medscape Deutschland: Wie viele übergewichtige und adipöse Kinder und Jugendliche leben in Deutschland?
Prof. Korsten-Reck: Ausgehend von den Ergebnissen des KIGGS (Kinder- und Jugend-Gesundheits-Survey, 2007) sind von den 3 bis 6jährigen 9% übergewichtig, das steigt dann in der Grundschule (7 – 10) sprunghaft an auf 15%, geht dann bei den 11 – 13jährigen auf 18% und sinkt dann bei den 14 bis 17jährigen wieder leicht auf 17%, hier sind in den KIGGS-Daten die Jugendlichen nicht repräsentativ erfasst worden. Im Mittel sind 15% der Kinder zwischen 3 und 17 Jahren übergewichtig, das sind 1,9 Millionen Kinder in Deutschland. Von Adipositas sind 6,3% betroffen, das entspricht 800 000 Kindern und Jugendlichen im Alter von 3-17 Jahren. In den letzten 10 Jahren haben wir eine deutliche Zunahme von Übergewicht, gerade Kinder aus Familien mit niedrigem Sozialstatus sind häufiger von Adipositas betroffen. Das gilt vor allem dann, wenn die Mutter selbst übergewichtig oder adipös ist.
Medscape Deutschland: Weshalb sind die Programme, die Metcalf und seine Kollegen untersuchten, so wenig effektiv?
Prof. Korsten-Reck: Sie greifen zu kurz. Es sind Programme ohne Verhaltenstherapie, ohne Motivationstherapie und die psychologische Suche nach den Ursachen des Essverhaltens. Denn allein durch Sport wird ja der Teufelskreis bei Adipositas nicht durchbrochen.
Medscape Deutschland: Legen die Ergebnisse nun nahe, dass Sport beim Abnehmen nicht hilft?
Prof. Korsten-Reck: Nein, Sport hilft beim Abnehmen. Nicht nur das, Sport wirkt viel umfassender. So hat Professor Hillman auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention „100 Jahre Deutsche Sportmedizin“ Anfang Oktober sehr deutlich aufgezeigt, dass körperliche Fitness zu sichtbaren strukturellen Veränderungen im Gehirn mit einem größeren Volumen des Hippocampus führt.
Medscape Deutschland: Was ist an FITOC anders als an den in der Studie erwähnten Sportprogrammen?
Prof. Korsten-Reck: FITOC ist ein ambulantes Programm für übergewichtige Kinder und Jugendliche im Alter von 8 bis 11 und 12 bis 16 Jahren. Es wird von der Abteilung Rehabilitative und Präventive Sportmedizin der Medizinischen Universitätsklinik Freiburg evaluiert. Adipositas ist viel komplexer als oft angenommen. FITOC ist eine Kombination aus speziellen Sportstunden, Ernährungsschulung und Verhaltenstherapie.
Im Unterschied zu anderen Programmen sind die Eltern sehr stark mit einbezogen. Eltern müssen ihre Kinder unterstützen, sie sind die Vorbilder. Sie bekommen theoretische und praktische Ernährungsinformationen und die physiologischen und psychologischen Hintergründen von Adipositas vermittelt. Auch sie werden an körperliche Aktivität herangeführt. Im 1. Jahr ist FITOC sehr intensiv mit 3 Mal die Woche Sport für jeweils eine Stunde. Im 2. Jahr kommen die Kinder in eine Auffanggruppe zur weiteren Betreuung. Wir machen den Eltern klar, dass das notwendig ist, denn nach 1 Jahr haben die Kinder zwar abgenommen, sind aber noch in keinem stabilen Zustand. Die Schulung der Wahrnehmung: ich bin zu dick, auch wenn die Strechhose oder immer weitere Klamotten das gut verbergen, ist dabei eine große Herausforderung. Die Zielsetzung heißt: Fitter zu werden und ein besseres Körpergefühl zu entwickeln, das heißt den Lebenstil langfristig zu bestimmen
Medscape Deutschland: Wie früh sollte FITOC denn beginnen?
Prof. Korsten-Reck: Am besten so früh wie möglich, das Einstiegsalter sollte 6 bis 8 Jahre liegen. Das ist ein spezielles Zeitfenster, in dem wir durch das Wachstum den Body-Mass-Index (BMI) noch gut korrigieren können. Denn mit zunehmendem Alter verschiebt sich der BMI nach oben, die zu vielen Kilogramm „verwachsen“ sich nicht.
Medscape Deutschland: Wie nachhaltig wirkt das Programm? Wird mehr Sport getrieben?
Prof. Korsten-Reck: Vergleicht man die Leistungsfähigkeit der FITOC Kinder mit normalgewichtigen Kindern, die in unserer Abteilung sonst untersucht werden, so liegen die FITOC Kinder zu Beginn auf dem 50% Perzentil, nach 3 Jahren auf dem 75% Perzentil. Das ist ein sehr wichtiges Ergebnis. Darüberhinaus haben sich die Alltagsaktivitäten deutlich erhöht, der Medienkonsum hat sich reduziert und es wird zum Beispiel häufiger mit dem Rad zur Schule gefahren. Nicht bei allen, aber bei vielen. Die Eltern haben auch bei den Langzeitergebnissen den entscheidenden Einfluss.
Medscape Deutschland: Wie sehen die Langzeitergebnisse aus? Gibt es Geschlechtsunterschiede?
Prof. Korsten-Reck: Für 150 bis 200 Kinder liegen Langzeitergebnisse vor. Jungs halten das Gewicht in der Regel besser, sie treiben auch eher Sport, Jungs entwickeln mehr Muskeln, verbrauchen mehr Energie als Mädchen im gleichen Alter. Mädchen haben es da sicher schwerer, wir versuchen das zu kompensieren über das Angebot an Tänzen wie HipHop und Entspannungstechniken. Wir müssen Mädchen dabei anders abholen, wobei wir heterogene Gruppen haben und das auch beibehalten wollen.
Medscape Deutschland: Über welchen Zeitraum wurden die Kinder nach Abschluss des Programms untersucht?
Prof. Korsten-Reck: Derzeit sind es 3 Jahre, je nachdem wie kooperativ die Probanden sind. Wir versuchen die Zusammenarbeit über einen Vertrag zu regeln. Wenn wir keine vollständige Untersuchung machen können, messen wir auch nur Größe und Gewicht. Wir legen aber viel Wert auf eine direkte Vorstellung und keine reine Erfragung zum Beispiel am Telefon, da wird erfahrungsgemäß das Gewünschte angegeben.
Medscape Deutschland: Zu Ihrem Programm gehören auch Elternschulungen. Was machen Sie, wenn die Eltern nicht kooperieren?
Prof. Korsten-Reck: Wir sind sehr gut mit den Pädiatern vernetzt. Diese weisen dann die Eltern darauf hin, dass sie bei ihrem Kind handeln müssen, dass sich das Übergewicht eben nicht „auswächst“. Da ist schon sehr viel Gesprächsbedarf. In FITOC nehmen wir keinen auf, der nicht sagt, er wolle etwas unternehmen gegen das zu hohe Gewicht, das heißt die Leute, die zu uns kommen sind hoch motiviert, sie wollen etwas tun. Die Motivationslage muss gut sein, das ist die Voraussetzung für die Teilnahme. Wir binden uns deshalb auch gegenseitig mit dem schon angesprochenen Vertrag.
Medscape Deutschland: Sie bieten auch Kurse für 12 bis 16jährige an. Weshalb? Ist das beste Zeitfenster da nicht schon verpasst?
Prof. Korsten-Reck: Da ist der Ansatz verschulter, wir legen mehr Wert auf Barrieremanagement, auf Eigenverantwortlichkeit und Individualität, der Ansatz ist altersentsprechend angepasst. Die Kombination aus Sport, Verhalten, Ernährung aber bleibt bestehen. Natürlich ist das Programm bei Kleineren sinnvoller. Ginge es nach uns würden wir am liebsten nur kleinere Kinder aufnehmen. Wenn Sie mal 120 Kilogramm haben – da gibt es schon somatische Folgen, das zeigen sich schon „kaputte“ Körper. Aber Tatsache ist: viele schaffen den Weg zu uns erst wenn sie älter sind. Etwa, wenn sie aufgrund ihres massiven Übergewichts keinen Ausbildungsplatz finden. Dann erst ist der Leidensdruck groß genug. Das ist ganz fatal. Aber Adipositas tut ja lange Zeit erst mal nicht weh.