Lyon – Die Einführung neuer Substanzen in die Behandlung der Multiplen Sklerose (MS) hat bereits große Erwartungen geweckt. Insbesondere die zahlreichen neuen Ansätze im Bereich biologischer Therapien schüren die Hoffnung auf eine grundlegende Bewältigung dieser Erkrankung. Sie bilden den Kern von etwa 40 neuen Therapieoptionen, deren Potenzial sich derzeit in klinischen Phase-1 bis Phase-3-Studien erst noch erweisen muss. Gleichzeitig bergen die neuen Therapieoptionen neben Chancen auch Risiken wegen ihrer noch nicht überschaubaren Nebenwirkungen.
Prof. Dr. med. Hans-Peter Hartung, Direktor der Neurologischen Klinik an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf, spannte in seinem Vortrag auf dem 28. ECTRIMS-Treffen in Lyon den Bogen von der frühen Entwicklung biologischer Therapien über die jüngsten Hoffnungen und ließ auch die Rückschläge nicht aus.
Unter biologischen Therapien wollte Hartung all diejenigen Behandlungsansätze mit Substraten verstanden wissen, die sich direkt aus biologischen Materialien gewinnen oder zumindest herleiten lassen. Dazu zählte er unter anderem Hormone, Wachstumsfaktoren, Enzyme, Impfstoffe, Gentherapien und Nukleotid basierte Therapien. In seinem Vortrag ging er jedoch insbesondere auf Zytokine, Antikörper und zellbasierte Therapien ein. Er erinnerte dabei an die noch recht junge Geschichte der Biotechnologie, mit deren Hilfe erst therapeutisch anwendbare biologische Substanzen in nennenswertem Umfang gewonnen werden konnten.
Interferone als Prototypen biologischer Therapien bei MS
So wurde Interferon beta erst Anfang der 80er Jahre in die Therapie der schubförmig remittierenden MS (RRMS) eingeführt. Die Fortschritte der Interferon-Forschung und die neuen Möglichkeiten, Interferon beta in Bioreaktoren im großen Stil zu produzieren, gingen dabei Hand in Hand. An den therapeutischen Einsatz monoklonaler Antikörper war damals noch gar nicht zu denken. Für deren Herstellung wurden erst kurz zuvor, Mitte der 70er Jahre, die wissenschaftlichen und technologischen Voraussetzungen geschaffen. Antikörper rückten vielmehr als neutralisierende Antikörper und damit als limitierende Faktoren der sich gerade etablierenden Interferontherapie in den Fokus. Ihre Bedeutung wurde anfangs sicherlich überschätzt, räumte Hartung ein. Im Laufe der Zeit wusste man allerdings mit diesem Problem umzugehen. Heute gibt es praktikable Algorithmen, mit deren Hilfe sich ein vermutliches Therapieversagen infolge neutralisierender Antikörper mit großer Sicherheit einschätzen lässt.
Moderne rekombinante Antikörper sind weniger immunogen
Die Problematik eines Wirkverlustes infolge Bildung neutralisierender Antikörper hat man im Folgenden bei der Entwicklung therapeutischer rekombinanter Antikörper berücksichtigt. So zielten die Bemühungen beim Design neuer Antikörper darauf, auf Maus-Anteile zusehends zu verzichten. Hartung erläuterte in diesem Zusammenhang auch die Nomenklatur der monoklonalen Antikörper. Während murine monoklonale Antikörper, die in ihrer Bezeichnung stets auf …momab enden, hochimmunogen sind, weisen chimärische monoklonale Antikörper (…ximab) trotz hohem Maus-Anteil eine signifikant geringere Immunogenität auf. Diese geht bei humanisierten monoklonalen Antikörpern (…zumab) noch weiter zurück und kommt bei vollständig humanen monoklonalen Antikörpern (…mumab) komplett zum Verschwinden.
Als ersten Vertreter der rekombinanten monoklonalen Antikörper in der MS-Therapie nannte Hartung Natalizumab. Dieser humanisierte Antikörper richtet sich gegen das Alpha4-beta1-Integrin (VLA-4) und verhindert damit die Migration von aktivierten Leukozyten durch die Blut-Hirn-Schranke.
Kurz vor der Einführung steht indes Alemtuzumab. Dieser ebenfalls humanisierte monoklonale Antikörper richtet sich gegen CD52-positive autoreaktive T- und B-Zellen und führt über direkte Lyse zu deren Depletion. Die rasche Unterdrückung des inflammatorischen Geschehens im Rahmen des Autoimmunprozesses nach einem Behandlungszyklus von nur 5 Tagen wird unterstützt durch die überproportionale Bildung von regulatorischen T-Zellen in der Phase der Rekonditionierung des Immunsystems.
B-Zellen als neues Target in der MS-Therapie
In der Pathophysiologie der MS standen hinsichtlich des immunologischen Geschehens bislang vor allem die T-Zellen im Mittelpunkt des Interesses. Mittlerweile haben sich allerdings die Hinweise darauf verdichtet, dass auch den B-Lymphozyten eine wesentliche Rolle in der Entstehung und Aufrechterhaltung des Autoimmunprozesses zukommt. Insofern stellen die B-Zellen ein interessantes Target von MS-Therapien der Zukunft dar, so Hartung. B-Zellen sind grundsätzlich in dreierlei Hinsicht an Immunreaktionen beteiligt. Erstens produzieren sie und insbesondere Plasmablasten und Plasmazellen, die sich beide aus B-Zellen entwickeln, Antikörper. Zweitens spielen B-Lymphozyten eine wesentliche Rolle bei der Kommunikation mit anderen Immunzellen. Sie verstärken Immunreaktionen, indem sie T-Zellen Antigene präsentieren. Und drittens besitzen sie somit eine regulatorische Funktion für den Haushalt der T-Zellen.
B-Zellen und deren Abkömmlinge finden sich sowohl im Liquor als auch in MS-Läsionen. Dabei scheint sich die Besiedlung durch diese Immunglobulin produzierenden Zellen im Verlauf der MS zu ändern. So lassen sich CD20-positive B-Zellen früh in aktiven MS-Läsionen histologisch nachweisen. Und im Liquor können bereits zu Beginn der Erkrankung Antikörper in auffälliger Verteilung als oligoklonale Banden detektiert werden, die dort auch über mehrere Jahre persistieren. In chronischen MS-Läsionen allerdings ist die Konzentration Antigen produzierender Zellen etwa 15mal so hoch wie in frischen Läsionen.
Hoffnung auf Perfektionierung bisheriger therapeutischer Konzepte
Eine gezielte B-Zell-Depletion scheint vor diesem Hintergrund eine sinnvolle Therapieoption nicht nur bei schubförmig verlaufender MS, sondern auch bei progredienten Verlaufsformen der MS zu sein, erklärte Hartung. In dieser Hinsicht wurden seit einigen Jahren Therapieversuche mit dem chimärischen monoklonalen Antikörper Rituximab gestartet, die allerdings nicht überzeugend verliefen. Vielversprechender, so der Experte, erscheinen nun Behandlungsansätze mit dem monoklonalen Antikörper Ocrelizumab. Dieser humanisierte Antikörper zielt ebenso wie Rituximab auf das Oberflächenantigen CD20 von aus ihren Vorläuferstadien herausgetretenen B-Zellen verschont somit insbesondere die Stammzellen.
Bei gleichem Wirkmechanismus werden von dem humanisierten monoklonalen Antikörper aber wesentlich bessere Ergebnisse erwartet als von dem chimärischen. So werden wesentlich seltener und deutlich weniger neutralisierende Antikörper gebildet. Und bei einer 3- bis 4-fach geringeren Rate an infusionsbedingten Reaktionen kommt es zu einer 2- bis 5-fach effektiveren Toxizität gegenüber den anvisierten CD20-positiven B-Lymphozyten und somit zu einer wirkungsvolleren Depletion dieser Zellen.
Neben der Entwicklung weiterer monoklonaler Antikörper konzentriert sich die Forschung momentan auch darauf, die Struktur therapeutisch einsetzbarer Antikörper zu perfektionieren. So zielen aktuelle Bemühungen auf speziell designte Antikörper, die wesentlich kleiner sind als monoklonale Antikörper und deshalb auch in der Lage sein könnten, die Blut-Hirn-Schranke zu durchdringen. So haben sogenannte Domänen-Designer-Antikörper ein 13-fach geringeres Molekulargewicht als konventionelle monoklonale Antikörper und könnten von daher Ziele im zentralen Nervensystem (ZNS) erreichen.
Gefahren der Antikörpertherapie offenbarten sich erst spät
Wie bei allen Therapien müssen auch für die Biotherapeutika wie die monoklonalen Antikörpern nicht nur nachgewiesen werden, dass sie wirksamer sind als bisherige Therapiestrategien, ihre Risiken sollten zudem den Nutzen nicht übersteigen. Daher stehen noch umfangreiche Sicherheitsüberprüfungen aus, bevor sie zugelassen werden könnten. Denn mit der Wirksamkeit des Eingriffes in das Immunsystem wachsen auch die Risiken zunächst nicht absehbarer Reaktionen, warnte Hartung.
Dass diese Überwachung selbst nach der Zulassung nicht nachlassen darf, lässt sich am Beispiel der biologischen Therapien besonders gut nachvollziehen. Wie problematisch sich der massive Eingriff in das Immunsystem auch noch spät auswirken kann, machte Hartung am Beispiel der Eskalationstherapie mit dem monoklonalen Antikörper Natalizumab deutlich. Unter dieser Therapie erwies sich eine sonst völlig harmlose Infektion mit dem JC-Virus (JCV) als überaus problematisch. Wie Daten aus der breiten Anwendung von Natalizumab in der Praxis ergaben, kann das Risiko, eine progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) - verbunden mit zum Teil schwersten neurologischen Defekten und ohne Aussicht auf Therapierbarkeit - zu entwickeln, auf über ein Prozent ansteigen. Dieses Risiko war aber in seinem Ausmaß keineswegs aus den Zulassungsstudien ersichtlich. Denn es stellte sich erst nach einer Therapiedauer von über 2 Jahren heraus.
Inzwischen erlaubt ein allgemein anerkannter Algorithmus eine Risikostratifizierung. Das Risiko nimmt demnach mit der Zeit zu. Als kritisch wertete Hartung gemäß diesem Expertenkonsens einen Behandlungszeitraum von mehr als 2 Jahren, eine vorhergehende immunsuppressive Behandlung sowie den Nachweis von JCV-Antikörpern als Hinweis darauf, dass der Patient mit dem ätiologisch für die PML verantwortlichen JC-Virus infiziert ist. Bei Vorliegen aller Risikofaktoren steigt die Wahrscheinlichkeit für eine PML auf über 4 pro 1.000. Bei fehlendem JCV-Antikörper-Nachweis und fehlender Immunsuppressions-Anamnese lässt sich das PML-Risiko beim Einsatz von Natalizumab nach derzeitigem Stand offenkundig auf kalkulierbar geringem Niveau von etwa 1:10.000 halten, so der Neurologe.
Als weiteres aktuelles Beispiel für die Risiken neuer biologischer Therapieansätze der MS nannte Hartung Alemtuzumab. So wurden in Phase-2-Studien Thrombozytopenien und Autoimmunthyreoiditiden festgestellt. Aber auch hier stellte sich heraus, dass das Risiko, Monate und sogar Jahre nach Lymphozyten-Depletion sekundäre Autoimmunerkrankungen zu entwickeln, eingegrenzt werden kann. Untersuchungen zur Identifizierung von Biomarkern wie zum Beispiel die Serumspiegel des Interleukins IL-21 sind im Gange.
Risiken neuer biologischer Therapien sind nicht sicher auszuschließen
Wenn heftige akute Immunreaktionen sehr früh in den mehrphasigen Prüfverfahren neuer Wirkstoffe auftreten, sind die Wissenschaftler zumindest gewarnt, wenngleich dies in jedem Einzelfall für die betroffenen Testpersonen mitunter gefährlich Dimensionen annehmen kann. So kam es bei der klinischen Prüfung des monoklonalen Antikörpers TGN1412 bereits in Phase 1 zu dramatischen Zwischenfällen, die sofort zum Abbruch der weiteren Entwicklung zwangen.
Während normalerweise zwei Signale notwendig sind, um T-Zellen zu aktivieren, stellte sich TGN1412 beim Menschen, nicht aber im Tierexperiment als Super-Antikörper heraus. Dieser aktivierte ohne weiteres alle T-Zellen mit CD28-Rezeptoren und löste somit einen wahren Zytokinsturm aus. Aus den Erfahrungen, die damals 6 freiwilligen gesunden Probanden beinahe das Leben gekostet hätten, hat man allerdings gelernt, betonte Hartung. So gibt man sich seitdem nicht mehr mit in vivo-Versuchsreihen im Tierexperiment zufrieden. Zusätzliche in vitro-Tests an humanen Immunzellen geben vielmehr Auskunft über das Zytokinmuster, wie es tatsächlich im menschlichen Organismus hervorgerufen wird.
Risiken neuer biologischer Therapien können laut Hartung bei aller Sorgfalt des klinischen Prüfverfahrens der Phasen 1 bis 3 niemals gänzlich ausgeschlossen werden. Das verdeutlichte er anhand einer einfachen Rechnung. Um ein seltenes unerwünschtes Ereignis, das statistisch bei einem von 10.000 Patienten vorkommt, mit annehmbarer Wahrscheinlichkeit zu detektieren, müsste eine randomisierte klinische Studie mit mindestens 30.000 Probanden durchgeführt werden. Dies wäre aber weder praktikabel noch bezahlbar.
Vor diesem Hintergrund betonte Hartung die herausragende Bedeutung der wachsamen Beobachtung aller neuen Substanzen nach ihrer Einführung. Dies betreffe aber nicht nur die biologischen Therapien, sondern alle neuen Arzneimittel gleichermaßen.