WIEN – Neue Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass das derzeit noch experimentell verwendete, multimodale Antidepressivum Lu AA21004 (Vortioxetin) bei der Behandlung älterer Patienten mit einer Depression sowohl wirksam als auch gut verträglich ist.
In einer randomisiert- kontrollierten Doppel-Blindstudie (RCT) mit über 450 älteren Erwachsenen aus 7 Ländern, die die Diagnose Major Depressive Disorder (MDD) erhalten hatten, zeigten sich unter der Therapie mit Lu AA21004 gegenüber Placebo signifikante Verbesserungen der depressiven Symptomatik und der Kognition. Zur Messung wurden verschiedene Diagnoseskalen sowie kognitive Tests verwendet.
Die einzige unerwünschte Nebenwirkung, die häufiger in der Verum- als in der Placebogruppe vorkam, war Übelkeit. Die Studie wurde am 15. Oktober 2012 in Wien im Rahmen des 25. Kongresses des European College of Neuropsychopharmacology (ECNP) vorgestellt [1].
Von der Diarylsulfonylamin-Verbindung Lu AA21004 wird angenommen, dass in ihr zwei pharmakologische Wirkweisen kombiniert sind: Serotonin (5-HT)-Wiederaufnahmehemmung und Rezeptoraktivität, hieß es in der Studie, und weiter: "In-vitro Untersuchungen weisen darauf hin, dass (es) sich um einen 5-HT3- und 5-HT7 -Rezeptorantagonisten, um einen 5-HT1B-Rezeptorpartialagonisten sowie einen 5-HT1A-Rezeptoragonisten und gleichzeitig einen Inhibitor des 5-HT-Transporters handelt."
Medscape Medical News hat den leitenden Autor der Studie, Prof. Dr. Cornelius Katona, Fellow des Royal College of Psychiatrists und Honorarprofessor des Instituts für psychische Gesundheit am University College London, interviewt. "Wir haben festgestellt, dass dies ein wirksames Antidepressivum bei älteren Menschen ist, wobei sich die Vortioxetin-Gruppe bei den Standardmessungen für Depressionen deutlich von der Placebogruppe absetzte."
Katona bemerkte weiter: "Während mehrere Studien zur Wirkung von Antidepressiva bei älteren Menschen, die ähnliches Design aufwiesen, negativ ausfielen, ist dies eine der relativ wenigen neuen Studien, die den antidepressiven Effekt eines neuen Mittels nachweisen konnte. Wir haben auch festgestellt, dass es sehr gut verträglich war und sich erfreulich positiv auf die Kognition auswirkt. Sobald dieses Mittel erhältlich ist, wird es meines Erachtens – insbesondere aufgrund seiner ganz neuen Wirkungsweise – interessant sein, es für eine Behandlung in Betracht zu ziehen“.
Zulassung in USA und Europa beantragt
Das japanische Pharmaunternehmen Takeda Pharmaceutical und das dänische Unternehmen Lundbeck hatten Anfang Oktober gemeinsam bekannt gegeben, dass sie für dieses Medikament einen Zulassungsantrag bei der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) sowie bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) zur Behandlung von MDD bei Erwachsenen eingereicht haben.
Anlässlich des Jahrestreffens der American Psychiatric Association im Jahr 2011 hatte Medscape Medical News bereits über die Präsentation einer Studie berichtet [2], die mit über 500 an MDD erkrankten, erwachsenen Patienten aller Altersgruppen aus 4 Kontinenten durchgeführt worden war. Gegenüber der Vergleichsgruppe zeigte sich bei Studienteilnehmern, die über den Zeitraum von 8 Wochen Dosen in Höhe von 1, 5 oder 10 mg Vortioxetin erhielten, eine signifikante Reduktion der depressiven Symptome.
Bei einer weiteren, seinerzeit vorgestellten RCT an 600 Patienten aus den USA konnten jedoch unter einer Dosis von 5 mg nach 6 Wochen keine signifikanten Unterschiede zwischen Interventions- und Placebogruppe hinsichtlich der depressiven Symptomatik festgestellt werden.
Der Zweitprüfer dieser Studie, Michael Thase, Professor für Psychiatrie an der University of Pennsylvania School of Medicine in Philadelphia, erklärte damals, er sei nicht sicher, ob das Misslingen der Studie auf die Dosis oder aber auf die strengen Regelungen für klinische Studien in den USA zurückzuführen sei. So vermutete er im Vergleich zu Europa: "Wissen Sie, wir hier in den USA wiegen mehr als die Menschen in Europa und anderen Regionen. Deshalb können 5 mg in den USA eher 2 oder 3 mg in Europa entsprechen." Dennoch zeigte er sich gegenüber Medscape Medical News schon damals zuversichtlich: "Aufgrund unserer (multinationalen) Studie haben wir Anlass anzunehmen, dass wir bei diesem Präparat mit Mehrfach-Wirkung auf dem richtigen Weg sind."
Seither hat Lundbeck in einer Presseerklärung [3] über positive Ergebnisse aus drei Phasen dreier klinischer Studien berichtet, die für Vortioxetin in den Verumgruppen gegenüber den Vergleichsgruppen zu signifikanten Verbesserungen auf der Montgomery-Åsberg-Depressionsskala (MADRS) führten. Eine dieser Studien war hauptsächlich in Europa durchgeführt worden, die anderen beiden ausschließlich in den USA. In der Presseerklärung heißt es, dass "über 5.000 Probanden weltweit Vortioxetin verabreicht worden ist."
Zielgruppe: Ältere Patienten mit Depression
Mit der neuen Studie zielten die Prüfärzte nun darauf ab, die Wirksamkeit und Verträglichkeit einer Medikamentendosis von 5 mg/Tag bei älteren Menschen festzustellen.
Insgesamt 452 Patienten über 64 Jahre waren in die Studie aufgenommen worden. Bei allen war eine MDD diagnostiziert worden und sie befanden sich aktuell in einer seit mindestens 4 Wochen andauernden depressiven Phase (MDE). Weitere Einschlusskriterien waren das Auftreten mindestens einer vorhergehenden MDE vor dem Alter von 60 Jahren und eine aktuelle Gesamtpunktzahl von über 25 auf der Depressionsskala MADRS.
Die Teilnehmer wurden randomisiert in Behandlungsgruppen eingeteilt, die über 8 Wochen eine Vortioxetin-Dosis von 5 mg/Tag (n = 156; 69 % Frauen), 60 mg/Tag Duloxetin (n = 151; 66 % Frauen), oder Placebo (n = 145; 62 % Frauen) verabreicht bekamen.
Die primäre Zielgröße war eine Veränderung von der Baseline bis Woche 8 auf der Hamiliton Depressionsskala (HAM-D24). Als Ansprechen galt eine Verbesserung von mindestens 50 % gegenüber dem Ausgangswert.
Die Ergebnisse zeigten für die Patientengruppe mit Vortioxetin gegenüber der Placebogruppe von Baseline bis Woche 8 eine signifikante Verbesserung auf der Hamilton-Skala (p = 0,0011). Diese Verbesserung war auch schon in Woche 6 nachweisbar (p = 0,02). Es gab außerdem eine signifikant höhere Ansprechrate in der Lu AA21004-Gruppe als in der Placebogruppe (53,2 % bzw. 35,2 %; p < 0,05) und mehr Remissionen (29,2 % bzw. 19,3 %; p < 0,05).
Die Patienten, die Duloxetin bekamen, schnitten im HAM-D24 ebenfalls besser ab als jene, die Placebo einnahmen (mittlerer Unterschied gegenüber Placebo: 5,5 Punkte).
Erfreulich günstiges Nebenwirkungsprofil
Zur Messung der kognitiven Fähigkeiten wurden verschiedene Textverfahren eingesetzt (Rey Auditory Verbal Learning Test (RAVLT) und Digit Symbol Substitution Test (DSST)). Die Gruppe, die das zu testende Antidepressivum erhielt, schnitt bei den Kognitionstests in der Verarbeitungsgeschwindigkeit, beim verbalen Lernen und bei den Gedächtnistests besser ab als die Placebogruppe.
Die Rate der vorzeitigen Studienabbrüche aufgrund von unerwünschten Nebenwirkungen im Zusammenhang mit der Medikamenteneinnahme betrug gruppenspezifisch 5,8 % bei Lu AA21004, 9,9 % bei Duloxetin und 2,8 % in der Placebogruppe.
Das einzige unerwünschte Ereignis, das mit einer signifikant größeren Häufigkeit nach der Einnahme von Lu AA21004 gegenüber Placebo (21,8 % bzw. 8,3 %) auftrat, war, wie bereits erwähnt, Übelkeit. Im Vergleich zur Placebogruppe kam es unter der Einnahme von Duloxetin signifikant häufiger zu Übelkeit, Müdigkeit, Verstopfung, verstärktem Schwitzen und Schläfrigkeit.
Schwerwiegende unerwünschte Ereignisse wurden von 4 der Placebo-Patienten berichtet, von einem aus der Lu AA21004-Gruppe und von einem Duloxetin-Patienten. Es wurden keine Todesfälle im Verlauf der Studie berichtet.
"Weder klinische Labortestergebnisse noch die Vitalparameter Gewicht oder EKG wiesen auf klinisch relevante Veränderungen während der Testung oder auf Unterschiede zwischen den Behandlungsgruppen hin", berichteten die Prüfärzte.
"Ältere Menschen nehmen häufig noch weitere Arzneimittel ein, oder sind in einer körperlichen Verfassung, in der Medikamente schlechter vertragen werden und damit gefährliche Wirkungen haben können. Daher ist dieses sehr gute Nebenwirkungsprofil besonders bedeutsam", fügte Katona hinzu. Dennoch erinnerte er daran, "dass dies die niedrigste wirksame Dosis ist. Es ist wahrscheinlich, dass die empfohlene Dosis nach der Lizenzierung des Medikaments zwischen 5 mg und 20 mg liegen wird."
Zusatznutzen durch neuen Wirkmechanismus
"Dieses Medikament ist aufregend, weil es einen besonderen Wirkmechanismus hat", erläuterte Prof. Dr. Robbert J. Verkes, von der Unit for Clinical Psychopharmacology, Abteilung für Psychiatrie am Universitären medizinischen Zentrum St. Radboud in Nijmegen, Niederlande, im Gespräch mit Medscape Medical News. "Das macht es zu einem interessanten Mittel; es ist eben kein Me-too-Präparat. Es kann einen Zusatznutzen bringen", sagt der Experte, der an dieser Studie nicht beteiligt war.
Insbesondere im Vergleich zu Duloxetin und hinsichtlich der Therapieresistenz sei das Nebenwirkungsprofil bemerkenswert: "Wir sollten diese neue Verbindung im Auge behalten. Sicher, wir brauchen mehr als nur eine Studie. Aber gerade weil es sich um einen neuen Wirkmechanismus handelt, könnten Patienten, die nicht auf klassische Antidepressiva, auf Wiederaufnahmehemmer reagieren, doch auf dieses neue Medikament ansprechen."
Dieser Artikel wurde von Andrea Thode aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.