Wien, Österreich – Rechtliche wie bürokratische Restriktionen im Bereich Opioidanalgetika – eingeführt, um Missbrauch und Drogenhandel zu unterbinden – behindern die legitime medizinische Verwendung dieser Arzneimittel und vereiteln weltweit bei Millionen Krebspatienten die Linderung meist unerträglicher Schmerzen.
Die Größenordnung dieses globalen Problems geht aus einem Bericht hervor, der auf dem diesjährigen ESMO-Kongress präsentiert wurde:

„Ungelinderte Krebsschmerzen führen weltweit zu enormem Leid, nicht etwa, weil wir über die nötigen Instrumente der Schmerzlinderung nicht verfügten, sondern, weil die meisten Patienten keinen Zugang zu essentiellen Schmerzmitteln haben“, stellte Dr. Nathan Cherny, Leiter der Abteilung für Onkologie und Palliativmedizin am Shaare Zedek Medical Center in Jerusalem, Israel fest. Dr. Cherny ist Hauptautor des Berichtes und seit 2008 Leiter der ESMO-Arbeitsgruppe für Palliativmedizin. Es seien nicht nur unzählige Patienten weltweit, „die unter fürchterlichen, anhaltenden Schmerzen leiden müssen – auch deren Familienangehörige sind häufig durch die Erinnerung an das Leid ihrer Angehörigen nachhaltig traumatisiert“, fügte er erklärend hinzu.
„Vielerorts in Afrika, Asien, dem Nahen Osten und Lateinamerika scheitern Regierungen daran, den Patienten eine angemessene Schmerzbehandlung zu gewährleisten“, wird in dem Gutachten geschlussfolgert. Es sei mit allerhöchster Priorität vonnöten, die Drogenüberwachungspolitik zu hinterfragen. Unmäßige Einschränkungen, die „grundlegendste Aspekte der Krebsbehandlung” betreffen, müssten aufgehoben werden.
Weltumspannender Bericht
Der Bericht wurde von der ESMO initiiert. Die Organisation arbeitete dabei mit der Europäischen Gesellschaft für Palliativmedizin, der Pain and Policies Study Group, dem Carbone-Krebszentrum der University of Wisconsin, der Union for International Cancer Control und der Weltgesundheitsorganisation WHO zusammen. Zusätzlich unterstützten viele lokale onkologische und palliative Zentren die Datenerhebung.
Die Daten wurden zwischen Dezember 2010 und Juli 2012 in 76 Ländern gesammelt (davon 56 % in Afrika, Asien, der Karibik, Lateinamerika und dem Nahen Osten). Die Autoren schätzen, dass der Bericht etwa 83 % der 5,7 Milliarden in diesen Regionen lebenden Menschen, erfasst.
Die International Association for Hospice and Palliative Care ist Herausgeber einer Liste von 7 Opioidanalgetika, die in der Behandlung von Krebsschmerzen als essenziell erachtet werden. Diese sind: Codein, Morphin (oral, rasche wie anhaltende Freisetzung), Oxycodon (oral), Fentanyl (transdermal), Methadon sowie Tramadol.
In dem umfassenden Bericht wird festgestellt, dass sehr wenige der untersuchten Länder sämtliche dieser 7 Arzneimittel bereitstellen können. Häufig waren weniger als 3 Mittel vorhanden, die Verfügbarkeit war eingeschränkt und die Medikamente wurden durch die Regierungen entweder gar nicht oder nur geringfügig subventioniert.
In vielen Ländern ist die Drogenüberwachungspolitik ein schwerwiegendes Problem bezüglich ihrer medizinischen Anwendung, denn die Verschreibung von Opioidanalgetika wird durch restriktive Obergrenzen hinsichtlich Dosis und/oder Dauer der Behandlung stark eingeschränkt.
„Wir wissen jetzt, welche Länder eine suboptimale Schmerzmittelversorgung bieten. Wir kennen die Anzahl der Patienten, die ihre Arzneimittel selbst bezahlen müssen und die Länder, in denen übermäßige regulatorische Hemmschwellen existieren. Diese machen es dem Patienten fast unmöglich, eine Verschreibung zu erhalten, diese zur nächsten Apotheke zu bringen und das Medikament entgegenzunehmen“, erklärte Dr. Cherny.
„In vielen, wenn nicht sogar in den meisten Ländern, die wir untersucht haben, werden die Patienten durch regulatorische Hemmnisse entlang der vielfältigen Prozessschritte behindert“, berichtete er.
Erfahrung aus erster Hand

Dr. Jim Cleary, Leiter der Pain and Policies Study Group sowie assoziierter Professor für Medizin am Carbone-Krebszentrum der University of Wisconsin in Madison reiste in Entwicklungsländer, um die Probleme mangelnden Zugangs zu Opioidanalgetika bei Krebspatienten zu untersuchen.
In einer bewegenden Rede sprach er über seine persönlichen Erfahrungen in einigen dieser Länder. „Es ist in Indien nahezu unmöglich an Morphin zu kommen“, erzählte er beispielsweise den Kongressteilnehmern. Dr. Cleary führte hierzu ein Video vor, indem zu Beginn ein Schulhof am Rande der indischen Stadt Kalkutta für die Dauer eines Nachmittags in eine behelfsmäßige Klinik umgebaut wird. Die Kamera folgt anschließend einem reisenden Arzt bei der Visite einer Frau, die in einem entlegenen Dorf an Brustkrebs stirbt. Sie leidet einen massiven Brusttumor, der deutlich erkennbar infiziert ist; sie stöhnt vor Schmerzen und erzählt, dass sie nachts nicht schlafen könne. Ihre Tochter ergänzt, dass ihre Mutter vor Qual Tag und Nacht schreie. „Unter adäquater Arzneimitteltherapie würde sie dies nicht tun“ erläuterte Dr. Cleary. Doch behinderten Richtlinien, die einst eingeführt worden waren, um den Opioidverbrauch unter Kontrolle zu halten, den rechtmäßigen Einsatz von Morphin in der Schmerztherapie.
Die größte Menge des weltweit verabreichten Morphins (etwa 80-95%) verteile sich auf einkommensstarke Länder, hob Dr. Cleary hervor. In den Vereinigten Staaten und Kanada würden etwa 75 mg pro Person und Jahr gebraucht. Der globale Durchschnitt betrage 6 mg, in Indien würden lediglich 0,095 mg pro Person und Jahr angewendet und dies, obwohl Indien der weltweit größte Morphinproduzent sei. Allerdings könne man bei diesen Zahlen nicht zwischen dem Morphinverbrauch zur Schmerzbehandlung und dem Gebrauch zur Substitution in der Suchttherapie unterscheiden. Österreich sei ein großer Verbraucher, aufgrund ebendieser Morphinanwendung in der Substitutionstherapie.
Es bestehe in der Verfügbarkeit von Opioidanalgetika aber auch eine große Diskrepanz zwischen West- und Osteuropa. Als Beispiel nannte Cleary die Ukraine: Ein strenges bürokratisches System führe dazu, dass Morphin lediglich als Injektionsmittel und nur in beschränkter Dosis verfügbar sei.
Ein zweites Video, das Cleary vorführte, zeigt einen hochdekorierten ehemaligen Armeegeneral mit Prostatakrebs im Stadium 4, der langsam und unter fürchterlichen Schmerzen stirbt. Der General ist von seiner Familie in Kiew in ein entlegenes Dorf weggezogen, weil seine Angehörigen nicht zusehen sollen, wie er tagtäglich unter Todesqualen schreit. Er trinkt täglich eine Flasche selbst gebrannten Alkohol, um sein Leid zu dämpfen und schläft mit einer geladenen Pistole unter seinem Kissen – für den Fall, dass die Schmerzen unerträglich werden. „Als Mediziner und Onkologen sind wir dazu verpflichtet, diesen Menschen zu helfen“, schlussfolgerte Cleary.
Beträchtliches Problem im Gesundheitswesen – weltweit
Dr. Carla Ripamonti, Leiterin für Palliativmedizin der Abteilung für Onkologie, IRCCS-Stiftung, Nationales Krebsinstitut Mailand, Italien, wurde gebeten, diesen Bericht zu kommentieren. Sie stimmte der Tatsache zu, dass „ungelinderte Schmerzen nach wie vor ein beträchtliches und weltweites Problem im Gesundheitswesen bzw. bei Patienten mit soliden Tumoren und hämatologischen Malignomen darstellt“.
Für „64 % der Patienten mit metastasierender, fortgeschrittener oder terminaler Erkrankung, für 59 % unter Antikrebstherapie und für 33 % der Patienten nach Therapie“ wären starke Schmerzen Realität, erläuterte die Ärztin. „Diese Statistiken weisen darauf hin, dass Krebsschmerzen vermutlich weltweit im Gesundheitswesen ein enormes Problem darstellen“, schlussfolgerte sie.
Der Artikel wurde von Dr. Immo Fiebrig aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.