Interview mit Univ. Prof. Dr. Heinz Ludwig. Vorstand der 1. Medizinischen Abteilung mit Onkologie am Wilhelminenspital Wien und Past-Präsident der Europäischen Gesellschaft für medizinische Onkologie (ESMO).

Medscape: Das Hauptthema auf dem diesjährigen ESMO-Kongress ist die personalisierte Krebsmedizin. Manche Redner preisen euphorisch die bisherigen Erfolge und die Zukunftsperspektiven zielgerichteter Therapien. Andere sind da viel skeptischer und sehen die Medizin erst am Beginn eines langen Weges hin zur individuellen Behandlung eines Tumors. Wie sehen Sie als Kliniker den Stand der Dinge?
Prof. Ludwig: Wie so oft in der Medizin ist die Sache viel komplexer als man initial gedacht hat. Ich persönlich meine, wir sollten sehr zurückhaltend mit Erwartungen sein, aber die Forschung weiterhin sehr engagiert vorantreiben. Keine Frage, es gibt ein paar Beispiele, bei denen die personalisierte Medizin eine Rolle spielt und das beflügelt vielleicht viele meiner Kollegen zu diesem Überoptimismus. Man muss aber auch die Limitationen sehen. Nehmen Sie zum Beispiel die ALK-Mutation bei den Lungenkarzinomen, die auf diesem Kongress präsentiert wird. Dabei handelt es sich um ein Medikament, das die Aktivität hemmt, die aus der Mutation resultiert. Bei Patienten, die diese Mutation aufweisen, ist dieses Medikament der Chemotherapie überlegen.
Medscape: Aber das betrifft doch nur eine ganz kleine Gruppe von Lungenkrebs-Patienten?
Prof. Ludwig: Ja, es handelt sich um rund 7 %. Das Schöne dabei ist, dass es das gibt. Das Tragische dabei ist, dass der Tumor intelligent ist. Er führt uns das Da-Vinci-Prinzip par excellence vor Augen. Er entwickelt Mutanten, die resistent sind. Die neue Substanz wirkt einige Zeit, bis der Tumor neue Klone etabliert hat, die unabhängig von dieser Tyrosinkinase-Aktivität sind.
Medscape: Das scheint nicht anders zu sein als bei der klassischen Chemotherapie. Also hat sich eigentlich nichts verändert?
Prof. Ludwig: Im Prinzip nicht, im Detail ja. Weil diese Medikamente angenehmer sind. Man kann sie einfach schlucken und braucht keine Infusionen. Man hat keinen Haarausfall, allerdings andere Nebenwirkungen, die in der Regel aber deutlich weniger sind als bei der Chemotherapie.
Medscape: Von Nebenwirkungen der neuen Medikamente spricht kaum jemand. Man hat den Eindruck, diese wären so maßgeschneidert, dass sie nur den Tumor treffen und keine anderen Körperfunktionen beeinträchtigen. Aber das stimmt so wohl nicht?
Prof. Ludwig: Natürlich nicht. Bei allen Themen, die wir hier diskutieren, ist eine sorgfältige Recherche hilfreich. Manchem Wissenschaftler geht da das Temperament durch. Sie möchten etwas sehr positiv darstellen, weil sie dieses positive Ereignis mit ihrer Person verknüpfen wollen. Das ist eine menschliche Charaktereigenschaft, die mehr oder weniger ausgeprägt ist.
Medscape: Glauben Sie persönlich, dass die personalisierte Krebsmedizin die Zukunft bedeutet oder dass wir uns eher in eine Sackgasse manövrieren?
Prof. Ludwig: Ich glaube schon, dass wir in Zukunft immer individualisierter behandeln werden. Das betrifft aber nicht nur den Tumor, sondern auch den Patienten, von dem man die ganze Persönlichkeit erfassen muss. Nicht nur seine Morbidität, Komorbidität, seine Organfunktionen, auch sein Alter, seine Einstellungen, seinen psychologischen Background. Das ist das eine. Das andere ist die Erkrankung selbst. Bei beiden müssen wir dazu lernen.
Beim Tumor ist das Gebot der Stunde, den Nebel, in dem wir immer noch stochern, zu lichten und viel Engagement in die Forschung zu investieren. Das Problem ist viel größer, als gedacht – ganz abgesehen von den verschiedenen Tumorentitäten. Die Steuerung der Gene ist ja nicht so simpel, wie wir gehofft hatten. Wir haben geglaubt, dass die 21- oder 22.000 Gene uns schon alles sagen. Jetzt wissen wir, dass es die epigenetischen Steuerungsmechanismen gibt. Und seit kurzem wissen wir auch, dass der sogenannte unnötige Ballast im Genom ebenfalls eine Steuerungsfunktion besitzt.
Medscape: Herr Prof. Ludwig, Sie engagieren sich besonders für eine Verbesserung der Arzt-Patienten-Kommunikation. Dies zeigt sich auch daran, dass Sie den Patiententag auf dem diesjährigen ESMO ausrichten. Aber da alles in englischer Sprache stattfindet, frage ich mich: Ist das ein Tag über Patienten oder ein Tag für Patienten?
Prof. Ludwig: Es ist ein Tag für Patienten und alles wird ins Deutsche übersetzt. Aber es ist schon so, dass sich auch Patienten überlegen müssen, wie viel sie in ihre Krankheitsbewältigung investieren wollen. Die Patienten haben mit diesem Angebot eine Chance mitzuwirken, dass das gesamte Problem auf einer höheren Ebene abläuft. Wenn sie mehr wissen, können sie unbegründete Ängste abbauen. Wenn sie in der Gruppe zusammen sind, können sie von anderen lernen, wie man mit einzelnen Aspekten der Krankheit umgeht. Wenn sie informierter sind, wissen sie, wo es Spezialzentren für ihre Erkrankung gibt, dass sie das Recht auf eine zweite Meinung und auf eine Behandlung oder eine Diskussion im Tumorboard haben. Und dann wissen sie auch, wie sie mit ihren Betreuern besser kommunizieren können und damit eine Art Konsumerismus betreiben. Wie ein Konsument die Qualität des Produktes bestimmt, kann auch der Patient einen gewissen Einfluss auf seine Behandlung nehmen. Das halte ich für sehr wichtig.
Medscape: Untersuchungen zeigen immer wieder: Patienten verstehen ihre Ärzte häufig nicht oder nur teilweise. Wie lässt sich die Kommunikation zwischen Arzt und Patient verbessern?
Prof. Ludwig: Eine gute Kommunikation ist von essenzieller Bedeutung. Sie ist ja auch für die Ärzte ein wesentliches Instrument, Patienten optimal zu behandeln. Was die Patienten möchten, ist völlig klar: Sie wollen einen informierten Arzt, der empathisch ist, der professionell agiert, der offen ist und zuhören kann. Das wäre der ideale Partner. Aber vom Patienten kann man auch einiges an Vorbereitung erwarten. Das ist den Kranken aber meist nicht bewusst. Und das ist etwas, was hier auf dem Symposium zum ersten mal ausgesprochen wird: Klar zu machen, dass der Patient eine wesentliche Rolle spielt und auch eine gewisse Verantwortung hat.
Heute geht der Patient zum Arzt, setzt sich hin und erzählt erst einmal alles, was ihn emotional berührt. Aber ist das für die Betreuung seiner Tumorerkrankung wirklich das Wesentliche? Meiner Ansicht nach sollte er sich vorbereiten. Er sollte seine Krankengeschichte niedergeschrieben haben, seine Befunde in chronologischer Ordnung mitbringen und er sollte sich überlegen: Was möchte ich alles erfahren, welche Fragen will ich beantwortet haben? Er sollte sich das möglichst auch notiert haben, denn ein solches Gespräch ist eine außerordentliche Situation, in der man verständlicherweise nervös ist. Gut wäre es, wenn man einen Partner dabei hat, der auch nachfragen kann, wenn etwas nicht klar ist. Und sollte der Betreuer oder die Betreuerin gerade sehr unter Zeitdruck stehen, sollte auch die Frage erlaubt sein, ob man das Gespräch auf einen späteren Zeitpunkt verschieben kann. Wenn das 100 Patienten gemacht haben, so bewirkt das auch einen Lerneffekt bei den Betreuern.
Medscape: Wie wirkt sich das Arzt-Patienten-Gespräch auf die Compliance aus?
Prof. Ludwig: Das ist ein schwieriges Thema. Wir wissen zum Beispiel, dass viele Leukämiepatienten das Glivec nicht jeden Tag nehmen. Aber dann haben sie eine geringere Chance, eine komplette molekulare Remission zu erreichen. In diesem Fall wirkt sich die Compliance direkt auf das Überleben aus. Bei der Hormontherapie von Brustkrebs haben wir eine ähnliche Situation: Die Hälfte der Frauen nimmt es ganz korrekt, etwa 30 % mehr oder weniger und ein kleiner Prozentsatz gar nicht oder sehr selten. Die haben natürlich auch ein schlechteres Outcome. Die Patienten müssen wissen, dass diese Folgen eintreten. Und der Arzt muss sie auch nachdrücklich auf ihre Eigenverantwortlichkeit hinweisen.
Medscape: Ein Schwerpunkt dieses Kongresses ist auch die Prävention und Früherkennung. In Deutschland gibt es Screening-Programme für Brustkrebs und inzwischen auch für Darmkrebs. In Fachkreisen sind sie umstritten. Was halten Sie davon?
Prof. Ludwig: Im Gesundheitswesen stellen sich ähnliche Probleme wie in großen Unternehmen. Wir müssen uns fragen: Was können wir mit den verfügbaren Mitteln an Gesundheitsleistungen erarbeiten? Wo bekomme ich "the greatest outcome for the input“? Da haben wir bei den Screening-Programmen ein Problem – das ist keine Frage. Bei einzelnen Programmen ist nicht klar, wie groß der Nutzen und wie groß der Schaden ist. Beim Kolonkarzinom, so meine ich, gibt es kein Problem, Das ist eine nützliche Sache und auch in der Fachwelt unbestritten. Hier stellt sich nur die Frage nach der Länge der Intervalle – ab 50 alle fünf oder zehn Jahre.
Bei Brustkrebs gibt es sehr unterschiedliche Daten und mehr Daten sprechen für das Screening. Doch wir müssen auch den Schaden sehen, nämlich die unnötigen Biopsien, die unnötigen Therapien, die unnötigen Operationen. Und was wir beim Screening gelernt haben ist, dass es beim Brustkrebs eine spontane Remission geben kann. Das Ganze ist jetzt derart aus dem Ufer gelaufen, dass jede Vorstufe automatisch operiert wird. Wenn Sie das nicht tun, sind Sie schon fast außerhalb des Standards und da frage ich mich: Wie stark sind denn hier die Daten? Wir müssten die Fakten endlich ohne Emotionen analysieren. Doch leider spielen hier auch große Interessen von verschiedenen Seiten eine Rolle.
Medscape: Auf dem Kongress wurde bereits das Ende der randomisierten Studien ausgerufen. Teilen Sie diese Meinung?
Prof. Ludwig: Natürlich kann ich überlegen, was wird im Jahr 2200 sein? Aber ich denke, noch sind wir bei weitem nicht so weit. Man kann sich vorstellen, dass wir irgendwann nur mehr das Genom und alles rundherum anschauen und eine maßgeschneiderte Therapie für den einzelnen Patienten oder eine Gruppe mit dieser genetischen Konstellation entwickeln. Aber so einfach wird das nicht sein. Je mehr wir forschen, desto mehr entdecken wir. Die Komplexität wird eher größer. Ich glaube eher, dass es für den Arzt der Zukunft unmöglich sein wird, aus seinem eigenen Gedächtnis heraus zu memorieren. Er wird EDV-gestützte Entscheidungshilfen brauchen, um aus der speziellen Situation die richtigen Schlüsse ziehen zu können.
Medscape: Brauchen wir mehr und differenziertere Krebsregister, um aussagekräftige Daten zu generieren?
Prof. Ludwig: Wir haben ja heute schon die Tumorbanken. Und unser Wissen wird sicher besser werden. Aber wir haben trotzdem nur die eine Seite. Die Seite des Angreifers. Doch wir müssen auch den Verteidiger sehen. Und da gibt es noch fast gar nichts. Wie reagiert das Immunsystem? Wann ist es tolerant? Wie können wir die Toleranz überwinden? Präsident Nixon hat 1972 den Krieg gegen den Krebs ausgerufen. 2072 wird ein anderer Politiker das gleiche sagen: „Wir werden den Krebs bekämpfen und wir haben noch einen langen Weg vor uns.“
Medscape: Herr Prof. Ludwig, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.