Forscher, die fast 100 Studien zum Thema Krebs und Sport ausgewertet haben, kommen zu dem Schluss, dass sich Sport vor allen Dingen auf das Sozialleben und die Müdigkeit von Krebspatienten positiv auswirkt. Bewegung während der Krebstherapie erhöht das physische Wohlbefinden; nach der Behandlung dagegen wirkt sie sich positiv unter andrem auf das Selbstwertgefühl, das Sexualleben, den Schlaf sowie auf Ängstlichkeit und Schmerzen aus. Shiraz I. Mishra vom Prevention Research Center der Universität von New Mexico, USA, einer der Autoren der beiden Metaanalysen, fasst zusammen, dass Bewegung sowohl während, als auch nach einer Krebstherapie die Lebensqualität betroffener Menschen erhöht.
Was so selbstverständlich scheint, ist es in den Augen von Prof. Dr. med. Hans Helge Bartsch, Ärztlicher Direktor und Vorstandsprecher der Klinik für Tumorbiologie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg, aber ganz und gar nicht.
„Vielen Patienten geht es während der Tumorbehandlung körperlich schlecht und sie befinden sich in einem komplexen Prozess der Krankheitsbewältigung.“ Ihnen fehlen oftmals die Motivation und der Weitblick, sich mit gesundheitlichen Strategien zu befassen. Am ehesten seien betroffene Menschen in der Rehabilitationsphase, also nach Beendigung der Therapie, zugänglich für dieses Thema. Seit einiger Zeit gibt es in der Freiburger Klinik ein Projekt, bei dem Menschen in der Akutbehandlungsphase durch Bewegung und Sport sowie mit Vorträgen, Ernährungsberatung, und unterschiedlichen Gruppenangeboten für einen selbstbestimmten Umgang mit ihrer Krankheit motiviert werden sollen. „Mehr denn je ist dies nötig“, resümiert Bartsch, „zumal die onkologische Behandlung heute kaum noch individuell und persönlich abläuft“. Es könne inzwischen von einem „industriell organisierten“ Therapiealltag gesprochen werden, in dem immer weniger Zeit für eine zunehmende Zahl von Patienten bleibt.
Krankenkassen übernehmen Sporttherapie oft nicht
Für den Sportwissenschaftler und Sportpsychologen Dr. Joachim Wiskemann, Leiter der Arbeitsgruppe „Bewegung und Krebs“ am Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg (NCT), spielt dabei noch ein anderer Aspekt eine wichtige Rolle: Es ist nicht selbstverständlich, dass die Krankenkassen die Kosten für eine Sporttherapie während der Behandlung tragen. Und ein wirklicher Effekt entstehe erst bei einem professionell begleiteten und systematischen Training, erklärt er. Der Einfluss von Bewegung auf zum Beispiel tumorrelevante Marker, entzündungshemmende Mechanismen und Gewichtsstabilisierung würde derzeit intensiv untersucht. Gegen das Fatigue-Syndrom, bei dem sich die Menschen durch Chemo- oder Strahlentherapie müde und abgeschlagen fühlen und Medikamente kaum wirken, stellen Sport und Bewegung derzeit die einzig erfolgreichen Alternativen dar. Hier sind Medikamenteneinsparungen sinnvoll und möglich.
Die vorliegende Cochrane-Studie, benannt nach dem britischen Arzt und Epidemiologen Archie Cochrane (1909-1988) –Vater der evidenzbasierten Medizin (EbM) – berücksichtigt nach Wiskemann auch nicht die potenziellen Zusammenhänge zwischen Sport, Prognose, Rezidivrate und Begleiterkrankungen durch Chemotherapeutika. Und obwohl es die meisten und besten Untersuchungen zu Ausdauersport bei Brustkrebs gäbe, fehlten in den Studien häufig die Rückmeldungen der Patienten. „Eigentlich wissen wir gar nicht so genau, was die Patienten tatsächlich von dem umsetzen, was ihnen individuell empfohlen wird.“ So könne momentan keine genaue Empfehlung zur idealen Sportdosis bei Krebs gegeben werden. Dafür seien nach Wiskemanns Ansicht weitere randomisierte Studien notwendig.
In der Medizin gelten randomisierte Studien als „Goldstandard“, weil durch sie nicht nur eindeutige Aussagen getroffen, sondern auch Kausalitäten nachgewiesen werden können.
„Sport in Therapie und Reha sinnvoll“
Aufgrund der umfangreichen Datenlage zu Sport und Brustkrebs gäbe es in der aktuellen Leitlinie (S3) zur Behandlung dieser Krankheit, so Bartsch, erstmals konkrete Stellungnahmen dazu. Eine Vertiefung der Erkenntnisse im Hinblick auf einen möglichen Zusammenhang zwischen der Krebsart und der Art des Sports sieht er jedoch skeptisch. „Ich wäre vorsichtig, da eine Beziehung herzustellen“, erklärt er. „Viel zu viele Variablen und Unsicherheiten würden zu nicht reproduzierbaren Ergebnissen führen. Wir wissen ja bei vielen Tumorarten noch nicht einmal, wie sie entstehen und was da auf Stoffwechselebene abläuft.“ Es sei auf alle Fälle wichtig und sinnvoll, Sport als Therapie- und Rehabilitationsmaßnahme zu fördern und weiter auszubauen.
Doch noch viel wichtiger findet Prof. Bartsch von der Klinik für Tumorbiologie die Neubewertung des heutigen Arzt-Patienten-Verhältnisses. Ohne eine würdevolle, wertschätzende und individuelle Behandlung brächten uns die Erkenntnisse über zusätzliche Therapieverfahren kaum weiter, „vor allem, wenn dafür keine Zeit ist und sie in Konkurrenz zu den Interessen der Pharmaindustrie stehen, die ihre Produkte verkaufen will.“ Es sei ein, so Bartsch, „erschreckender Wandel“ in der medizinischen Ethik zu beobachten. Prof. Dr. med. Giovanni Maio vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin in Freiburg fasste das im Deutschen Ärzteblatt (109(16): A 804–7) so zusammen: „Heute wird etwas anderes vom Arzt verlangt. Erwartet werden überprüfbare und abgesicherte Lösungen (…). Es kommt zu einer kompletten Verrechtlichung der ärztlichen Hilfe, die zur Abgabe eines qualitätsgesicherten Produkts transformiert wird (…). Gerade die Konfrontation mit einer ernsthaften Erkrankung führt den Menschen an Grenzerfahrungen heran (…), [bei denen] viele Patienten (…) keinen Leistungserbringer [benötigen], sondern eine Persönlichkeit, bei der sie sich menschlich aufgehoben fühlen. Alle Maßnahmen, die nicht garantiert und ohne viel Aufwand erfolgreich sind, werden mehr und mehr ausgeschlossen, einfach weil sie durch das neu etablierte Raster der Rentabilität fallen (…).“