Das psychisch kranke Kind braucht viele Ärzte

Anja Laabs | 21. September 2012

Autoren und Interessenskonflikte

 

Prof. Dr. med. René Santer
 

Psychosomatische Beschwerden sind auch im Kindes- und Jugendalter keine Seltenheit. Ihre Therapie überfordert mitunter die Kompetenz einer einzelnen Disziplin. Darüber sprach Medscape Deutschland auf der 108. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin in Hamburg mit Prof. Dr. med. René Santer, einem der Organisatoren des Kongresses an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf.

Medscape: Herr Professor Santer, bestimmen psychosomatische Störungen heute das Bild im Praxisalltag der Kinder- und Jugendärzte?

Prof. Santer: Psychosomatische Störungen bei Kindern und Jugendlichen werden durchaus häufig im Praxisalltag beobachtet. Laut der BELLA-Studie [1] des Robert Koch-Instituts, bei der Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu ihrem seelischen Wohlbefinden und Verhalten befragt werden, haben etwa 18 % der Kinder und Jugendlichen hierzulande psychische Auffälligkeiten. Dazu kommen noch einmal etwa 4 % psychosomatische Beschwerden. Diese Kinder haben Symptome oder sind gefährdet, sie sind aber keineswegs alle psychisch krank und behandlungsbedürftig. Je nach Praxislage spiegelt sich das auch im Praxisalltag wider. In sozialen Brennpunkten können mehr Kinder betroffen sein.

Medscape: Ein besonderes Thema auf der Konferenz waren die veränderten Gesundheitsprobleme von Kindern im Hinblick auf den gesellschaftlichen Wandel. Welche Gesundheitsprobleme sind das und inwiefern sind sie gesellschaftlich relevant?

Prof. Santer: Heute spielen Probleme wie Unter- oder Mangelernährung oder bestimmte Infektionskrankheiten kaum noch eine Rolle im Praxisalltag. Im Gegenteil, bei den somatischen Beschwerden sind es vor allen Dingen Übergewicht und Allergien. Es gibt eine ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln und einen breiten Impf­schutz. Dafür gibt es aber inzwischen ein hohes - wenngleich stabiles - Niveau an psychischen Problemen, die eng mit dem sozialen Status der Eltern verknüpft sind. Häufige psychische Störungen sind Depressionen, Angstzustände, ADHS und Suchtverhalten bei den jungen Patienten.

Medscape: Was bedeutet das für die behandelnden Ärzte, wenn sie mit psycho­somatischen Beschwerden konfrontiert werden, die ihre Ursache primär im Lebensumfeld des Kindes oder des Jugendlichen haben?

Prof. Santer: Nicht nur die Diagnostik, sondern auch die Therapie von Kindern mit psychosomatischen Störungen ist komplex. Kinder- und Jugendärzte können dieses riesige Spektrum alleine nicht abdecken. Hier sind, mehr denn je, nicht nur Gemeinschaftspraxen, sondern fachübergreifende Praxiszusammenschlüsse gefragt, die neben medizinischen, auch psychische und soziale Themen aufgreifen. In solch einer Praxisgemeinschaft oder Poliklinik, arbeiten dann idealerweise Kinderärzte mit Psychologen, Psychotherapeuten und Sozialarbeitern zusammen.

Medscape: Gibt es Unterschiede in der Diagnose und Therapie psychosomatischer Beschwerden zwischen Kindern und Erwachsenen?

Prof. Santer: Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass unbehandelte Kinder später als Erwachsene oft ebenso psychosomatische Beschwerden haben werden. Zum Teil kommen neue Symptome hinzu oder sie ändern sich. Bereits Säuglinge können beispielsweise an Depressionen leiden. Auch sie ziehen sich zurück und sind teilnahmslos, doch drückt sich das bei ihnen naturgemäß anders als bei einem Erwachsenen aus. Kinder verfügen über ein anderes Mitteilungsrepertoire. Dennoch gibt es klassische ernst zu nehmende Symptome bei Kindern wie Bauchschmerzen oder Einnässen, die bei Erwachsenen nicht so häufig sind. Schließlich ist auch die Anamnese beim Kind eine andere, wo Fragen zum sozialen Umfeld oder zur Interaktion mit den Bezugspersonen eine wesentliche Rolle spielen. Die Diagnostik leitet sich von den Symptomen ab. Letztlich müssen jedoch zugrunde liegende Ursachen mit in den Fokus gerückt werden. Entscheidend ist letztlich eine altersgerechte Behandlung, auch bei gleichen Symptomen.

Medscape: Gibt es bei den psychosomatischen Beschwerden Unterschiede zwischen Jungs und Mädchen?

Prof. Santer: In der Summe sind beide Geschlechter gleichermaßen von den Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels betroffen. Die Unterschiede sind eher graduell. Das Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperkinesie-Syndrom, also ADHS, macht hier eine kleine Ausnahme. So haben laut der Bella-Studie 2,9% der untersuchten Jungs und 1,4% der Mädchen ADHS. Bei Störungen im allgemeinen Sozialverhalten gibt es kaum Unterschiede. Von den Jungen sind 7,9% und von den Mädchen nur geringfügig weniger, nämlich 7,2% betroffen. Aus meiner Sicht stellt sich hier die Genderfrage nicht so sehr. Die gesellschaftlichen Probleme wie Armut, mangelnde Bildung, emotionale und körperliche Vernachlässigung, treffen beide Geschlechter gleichermaßen.

Medscape: Wo sehen Sie Handlungsbedarf in Bezug auf den Umgang mit diesen veränderten Krankheitsbildern?

Prof. Santer: Zunächst einmal besteht Forschungsbedarf, um herauszufinden, wie groß dieses Problem tatsächlich ist und um Ursachen zu finden. Dennoch gibt es schon jetzt umfangreiche Beobachtungen, aufgrund derer gesagt werden kann, dass viele psychosomatischen Beschwerden einen direkten Bezug zum sozialen Umfeld des Kindes haben. Hier ist Präventionsarbeit nötig, die können Ärzte aber nur begrenzt leisten. Sie können Symptome bestenfalls frühzeitig erkennen und auf eine vielleicht besorgniserregende Entwicklung hinweisen. Prävention heißt hier aber, dass Kinder in einem stabilen und sicheren Umfeld aufwachsen und dass dafür die gesellschaftlichen Bedingungen geschaffen werden. Dazu gehören beispielsweise die soziale Absicherung und Bildung. Und auch wenn es erst einmal teurer ist, mehr in das Wohlbefinden der Kinder zu investieren und sie in einem Umfeld aufwachsen zu lassen, das ihren Bedürfnissen gerecht wird, kommt es die Gesellschaft am Ende billiger. Denn weniger kranke Menschen kosten auch weniger. Das dürfte vielleicht sogar jene überzeugen, die nicht nur aus humanistischen Gründen dringenden Handlungsbedarf sehen.

Medscape: Herr Professor Santer, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Referenzen

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Anja Laabs
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Prof. Dr. med. René Santer
Es wurde erklärt, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

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