Verschlechterter geistiger Zustand bei einem Mann mit Depressionen und Suizidgedanken

Dr. Rick G. Kulkarni | 22. August 2012

Autoren und Interessenskonflikte

 

Ein 41-jähriger Mann mit einer Anamnese von chronischen Rückenschmerzen, Depression und Alkoholmissbrauch stellte sich in der Notaufnahme mit einer verwaschenen Sprache und Halluzinationen vor. Er ist unkooperativ und ist für einen verschlechterten geistigen Zustand bekannt.

Eine kurze Durchsicht seiner Akte zeigte, dass der Patient am Morgen desselben Tages in der Notaufnahme der Psychiatrie, aufgrund verschlechterter Depression und Suizidgedanken, vorstellig war. Zum Zeitpunkt der morgendlichen Vorstellung in der Notaufnahme stellte er keine bedrohliche Gefahr für sich selbst dar und für die nächste Woche wurde eine ambulante Nachuntersuchung arrangiert. Eine Durchsicht der Krankenakten zeigte, dass seine Rückenschmerzen vorher durch verschiedendste Neurochirurgen abgeklärt wurden und zur Zeit mit Baclofen medizinisch behandelt werden. Er nimmt ebenfalls Amitriptylin gegen seine Depression mit dem Glauben ein, dass diese Medikation ebenfalls gegen seine chronischen Schmerzen helfen könnte.

Die körperliche Untersuchung des Patienten ergab, dass er einen depressiven geistigen Zustand, wie schon bekannt, hatte. Sein Blutdruck zeigte einen Wert von 90/60 mm Hg, und er hatte eine Herzfrequenz von 120 Schlägen pro Minute. Er hatte eine normale Atmung mit 12 Atemzügen pro Minute, eine Sauerstoffsättigung von 97 % (während er Raumluft atmete) sowie eine rektal gemessene Temperatur von 39.2°C. Er hat trockene Haut und beidseits geweitete Pupillen mit 6 mm Durchmesser, welche minimal auf Licht reagierten. Die kardiovaskulären und respiratorischen Untersuchungen sind für Tachykardie signifikant. Es gibt keine Aufblähung des Abdomens, und es gibt keinen Nachweis eines Traumas. Ein breites Spektrum an Laboruntersuchungen mit einem großen Blutbild, Organparametern, einem Gerinnungsprofil und Messungen der Azetaminophen- und Aspirin- Spiegel wurde angeordnet. Der Patient wurde angesichts seines geistigen Zustandes orotracheal zur Aufrechterhaltung seiner Atmung intubiert; ein dringendes Kopf-CT und ein EKG (siehe Bild oben) wurden angefordert.

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Diskussion:

Bei dem Patienten wurde in diesem Fall eine Überdosis mit trizyklischen Antidepressiva (TCA) diagnostiziert. Dieser Fall ist ein klassisches Beispiel für eine Überdosis mit trizyklischen Antidepressiva. Im Kontext der klinischen Vorstellung des Patienten war die Einnahme von Amitriptylin als verwendete Medikation bekannt, und der Bericht seiner Vorstellung am selben Tag wegen Suizidgedanken und Depression bekräftigt eine Überdosis mit trizyklischen Antidepressiva.

Der EKG-Befund unterstützt diese klinische Diagnose aufgrund eines verbreiterten QRS-Komplexes von 120 msek, einem verlängerten QT-Intervall >500 msek und einer terminalen R-Welle in Ableitung aVR von >3 mm. Eine Infusions-Therapie mit Natriumbikarbonat wurde eingeleitet, worauf sich der Zustand des Patienten stabilisierte. Er wurde zur weiteren Beobachtung und zur Überwachung auf die Intensivstation aufgenommen.

Die Laboruntersuchung, welche die Analyse von cerebrospinaler Flüssigkeit beinhaltete, um eine Enzephalopathie auszuschließen, war unauffällig. Das Kopf-CT war ebenfalls unauffällig. Obwohl jetzt Intoxikationen mit trizyklischen Antidepressiva selten sind, da eine große Prozentzahl von Patienten alternative Antidepressiva, wie selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs), einnehmen, sollte dennoch eine Intoxikation mit trizyklischen Antidepressiva als Folge einer Überdosis in Betracht gezogen werden. Dies sollte besonders bei Patienten mit einer Historie von Depression und/oder Nutzung von trizyklischen Antidepressiva zur Therapie von chronischen Schmerzen bedacht werden.

Die am häufigsten verwendete TCA-Medikation erfolgt über Amitriptylin, Desipramin, Imipramin, Nortriptylin, Doxepin und Clomipramin. Ein Patient mit TCA-Intoxikation könnte initial einen verschlechterten geistigen Zustand zeigen, der sich von Verwirrung zu Koma und Anfallsleiden erstrecken kann. Der primäre therapeutische Wirkmechanismus von TCA ist die Hemmung der Wiederaufnahme von Katecholaminen, obwohl TCAs ebenfall wirksame Anticholinergika sind, und Natriumkanäle und alpha-adrenerge Rezeptoren blockieren.

Alle diese Wirkmechanismen können zu Toxizität führen, obwohl anticholinerge Aktivitäten für die meisten Effekte verantwortlich sind. Anzeichen von anticholinerger Toxizität sind erweiterte Pupillen, trockene Schleimhäute, verschlechterter geistiger Zustand, Tachykardie, Fieber, trockene Haut, und verringerte Darmgeräusche. Betroffene sind aufgrund der Senkung der Katecholamine und der Blockade der alpha-adrenergen Rezeptoren hypotensiv. Eine besondere Erwähnung des Effektes von TCA-Medikation auf das Erregungsleitungssystem des Herzens ist berechtigt. Die EKG-Veränderungen entstehen primär durch die Blockade der schnellen Natriumkanäle und resultieren in einer Verlängerung des QRS-Intervalls (oder Phase 0) des Aktionspotentials zu einer klinisch signifikanten Dauer von >100 msek. Die Phase 3 des Aktionspotentials ist ebenfalls verlangsamt und zeigt sich in einer Verlängerung des QT-Intervalls. Typische Befunde beinhalten die Entwicklung eines Terminals 40 ms zur rechten Achse zwischen 120 und 270 Grad, führen zu einer terminal steigenden Ablenkung größer als 3 mm in Ableitung aVR und einem damit verknüpften R/S-Verhältnis in aVR größer als 0.7. Eine entsprechende terminale, tiefe undeutliche S-Welle in Ableitung I und aVL kann ebenfalls gezeigt werden. Schwere kardiale Intoxikationen können zu zahlreichen Herzblocks, Asystolie, uneffizienter myokardialer Kontraktilität und anderen Rhythmusstörungen mit ventrikulärer Tachykardie und Torsades de pointes führen.

Die Behandlung von TCA-Intoxikation sollte sich auf den kardiovaskulären Zustand fokussieren, da Arrythmie und Hypotension die häufigsten Mortalitätsursachen für TCA-Überdosis darstellen. Natriumbikarbonat gilt als das Gegenmittel der Wahl, da sowohl der Gehalt an Natrium als auch der Effekt auf den Serum-pH-Spiegel eine wesentliche Rolle spielen. Eine Anfangsdosis von 2 Ampullen ist bei einem Hinweis von elektrokardiographischer Intoxikation angemessen; danach sollten zusätzlich Boli und eine Natriumbikarbonat-Infusion verabreicht werden, mit dem Ziel, das QRS-Intervall unter 100 ms und einen Serum-pH-Wert zwischen 7.45 und 7.55 zu halten.

Wenn die Prävention einer Arrhythmie fehlschlägt, können zusätzliche Gegenmittel, wie Lidocain oder Phenytoin und Magnesium, verabreicht werden. Amiodaron, Procainamid (wird nicht in Europa verwendet) und andere Gegenmittel könnten zu einer weiteren Verlängerung des QT-Intervalls führen, was verhindert werden sollte. Refraktäre Hypotension auf Natriumbikarbonat und intravenöse Flüssigkeit kann die Verabreichung von Vassopressoren, wie Norepinephrin als bevorzugtes Mittel, erfordern. Wenn Anfallsleiden entstehen, sollten diese mit Benzodiazepinen behandelt werden. Zusätzlich zur spezifischen Therapie der kardiovaskulären Auswirkungen einer TCA-Überdosis, sollten die Grundlagen im Umgang mit Überdosierung, wie Schutz der Atemwege bezüglich eines verschlechterten geistigen Zustandes oder Anfallsleidens, Darmdekontamination mit Aktivkohle, Prüfung anderer lebensbedrohlicher, zusätzlich aufgenommener Mittel (wie Aspirin und Acetaminophen) und Beratung mit dem psychiatrischen Service sowie Notfallmaßnahmen bei Vergiftung, in Betracht gezogen werden. Nebenbei bemerkt, ist ein wichtiger Punkt in Bezug auf die Gabe von Aktivkohle, dass deren Wirkung mit der Zeit abnimmt und sehr wahrscheinlich 4 Stunden nach Aufnahme bedeutungslos ist. Das Risiko von Aspiration kann den Vorteil von Aktivkohle bei Patienten mit Anzeichen von Intoxikation ausgleichen, besonders bei Individuen mit einem depressiven oder verschlechterten geistigen Zustand und ungeschützten Atemwegen.

Nach anfänglicher Stabilisierung sollten die Symptomatiken einer trizyklischen Überdosis auf der Intensivstation überwacht werden. Es wurde nachträglich aus der Patientenakte ersichtlich, dass ihm 6 Wochen vor Vorstellung 240 Tabletten Amitriptylin (25mg) gegen seine Rückenschmerzen verschrieben wurden, und dass der Patient letztendlich ein paar Stunden vor seinem zweiten Besuch 100 dieser Tabletten einnahm. Die Veränderungen im ersten EKG normalisierten sich in einem nachfolgendem EKG, das 3 Tage später durchgeführt wurde. Der Patient wurde letztendlich für weitere Behandlungen in einer psychiatrischen Abteilung stationär aufgenommen.

 

Autoren und Interessenskonflikte

Autor
Dr Rick G. Kulkarni
Notfallmedizin, Vizepräsident/Medizinischer Direktor, WebMD

Details zum Fall
Dr. Suresh Rangarajan und Dr. Wayne Whitwam

Fallreview
Dr. Adam Perrin

Übersetzung
Beatrice Mikles, stud. cand. psych. B.Sc.

Dieser Fall wurde ursprünglich von Medscape.com am 15. September 2011 präsentiert.

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