Glukosurie – ein neuer Behandlungsansatz bei Typ-2-Diabetes

Martin Wiehl | 16. August 2012

Autoren und Interessenskonflikte

Königstein-Falkenstein

Die Glukosurie zählt zu den prominenten Krankheitssyptomen eines Diabetes mellitus und zeigt in aller Regel einen entgleisten Zuckerstoffwechsel an. Ein neues Therapieprinzip schickt sich derzeit an, eben diese Zuckerausscheidung mit dem Urin in die Behandlung der chronischen Glukosestoffwechselstörung einzuführen. Was auf den ersten Blick widersinnig erscheint, entbehrt aber nicht einer medizinischen Rationale. Mittlerweile gibt es für erste Wirkstoffkandidaten auch klinische Belege für die Effektivität und Sicherheit des neuartigen Behandlungsansatzes.

Leber und Nieren sind die einzigen menschlichen Organe, die Glukose in die Zirkulation bringen können. So stammt etwa ein Fünftel der Glukose, die während nächtlicher Ausnüchterung in den Blutkreislauf gelangt, aus der Niere. Und bei Stoffwechselgesunden geht kein Zucker über den Urin verloren. Die Niere filtert nämlich die Glukose heraus und stellt sie dem Organismus wieder zur Verfügung. Da die Nierenkapazität jedoch begrenzt ist, kann das Filterorgan das Substrat nur bis zu einer Schwelle von etwa 180 mg/dl Plasmaglukose reabsorbieren.

Imitierter Gendefekt als Therapieprinzip

Auf der einen Seite ist die Glukosurie als krankhaftes Symptom eines Diabetes mellitus hinlänglich bekannt. Sie tritt auf, wenn infolge eines entgleisten Zuckerstoffwechsels die Glukosekonzentration im Urin die Nierenschwelle übersteigt. Auf der anderen Seite könnte aber eine bewusst herbeigeführte Zuckerausscheidung mit dem Urin überflüssige Glukose reduzieren und damit auf ebenso einfache wie elegante Weise zu einer Senkung des Blutzuckers beitragen.

Genau dies passiert übrigens bei Menschen mit einem genetischen Defekt ihres Natrium-Glukose-Kotransporters-2 (SGLT-2 = Sodium-Glucose Cotransporter-2) im proximalen Tubulus der Niere. Während normalerweise 90 Prozent der Glukose im Primärharn über SGLT-2 rückresorbiert werden, verbleibt bei diesen Menschen die Glukose im Urin und wird bis auf einen Rest von zehn Prozent ausgeschieden. Dieser Rest wird über SGLT-1 im distalen Tubulus zurückgehalten.

Bei diesem Transporterdefekt, der auch als familiäre renale Glukosurie bezeichnet wird, handelt es sich um ein völlig harmloses Krankheitsbild ohne gesundheitliche Folgen. Eine Neigung zu Harnwegsinfektionen, wie man vermuten könnte, ist bei den Betroffenen nicht festzustellen. Selbst eine Beeinträchtigung der Nierenfunktion durch die permanente Überladung mit Glukose im Filterorgan ist ausgeschlossen.

Mit der Entwicklung von SGLT-2-Inhibitoren versucht man nun, diese genetische Mutation zu imitieren und für die Behandlung der Hyperglykämie bei Typ-2-Diabetes nutzbar zu machen. Bereits vor mehr als 120 Jahren hatte einer der Pioniere der Diabetesforschung, Josef von Mehring, die glukosurische Wirkung von Phlorizin, einem pflanzlichen Glycosid aus der Gruppe der Flavonoide, das in der Rinde von Obstbäumen vorkommt, entdeckt. Diese Substanz inhibiert aber nicht nur SGLT-2, sondern auch SGLT-1, und führt deshalb auch zu Diarrhöen, da neben der Niere auch Dünndarm und Kolon von SGLT-1-Rezeptoren besetzt sind.

Mit der Substanzgruppe der sogenannten Gliflozine konzentriert man sich deshalb auf eine selektive Hemmung des SGLT-2-Rezeptors, der fast ausschließlich in der Niere, aber auch in der Plazenta exprimiert wird. Als Kandidaten, die derzeit klinisch erprobt werden, sind T-1095, AVE2268, Remogliflozin etabonate, Sergliflozin, Dapagliflozin, JNJ-28431754/TA-7284 und BI 10773 zu nennen. Am weitesten fortgeschritten ist die Entwicklung des SGLT-2-Inhibitors Dapagliflozin.

Dapagliflozin hat eine 3.000-fach höhere Affinität zum SGLT-2-Rezeptor als zum SGLT-1-Rezeptor. So kommt es dosisabhängig zu einer erhöhten Glukoseausscheidung, ohne die Darmfunktion zu tangieren. Da sich aber bei erhöhten Plasmaglukosespiegeln infolge eines Typ-2-Diabetes die Nierenschwelle grundsätzlich verschiebt, fällt die Glukoseausscheidung durch SGLT-2-Inhibition bei Zuckerkranken weitaus stärker aus als bei stoffwechselgesunden Menschen. Mit einer Halbwertszeit von etwa 17 Stunden scheint die Substanz auch hinlänglich stabil zu sein.

Der Urin wird süß, das HbA1c sinkt

Dapagliflozin schafft es, täglich 50 bis 80 g Glukose zu eliminieren, wobei die Substanz unabhängig von Insulin wirkt. Bei niedrigen Blutglukosespiegeln ist der therapeutische Effekt selbstlimitierend, wodurch Hypoglykämien ausgeschlossen werden. Bei abnehmender Nierenfunktion, insbesondere ab einer glomerulären Filtrationsrate (GFR) unter 50 ml/min verliert der Hemmstoff aber an Wirksamkeit und ist dann nicht mehr sinnvoll einsetzbar.

Kombiniert man die Substanz mit Metformin, so ist aktuellen Studien zufolge eine zusätzliche Senkung des HbA1c um etwa 0,8 Prozent zu erwarten. Nach 24 Wochen ist durchschnittlich ein Gewichtsverlust von knapp 3 Kilogramm zu verzeichnen. Als pleiotrope Effekte ergeben sich eine Blutdrucksenkung um 10 mmHg systolisch sowie eine Absenkung der Harnsäurewerte um 10 bis 15 %. Als zielführend hat sich auch die Kombination mit Insulin erwiesen. Hier betrug die zusätzliche Reduktion des HbA1c rund 1 % nach 48 Wochen, wobei die Insulin-Dosierungen stabil gehalten werden konnten, anstatt nach oben angepasst werden zu müssen. Auch hier kam es zu einer Gewichtsreduktion, die allerdings mit minus 1 kg etwas moderater ausfiel.

Harnwegsinfekte seltener als befürchtet, Genitalinfekte häufiger

Harnwegsinfekte treten unter Dapagliflozin nicht in dem Ausmaß auf, wie sie anfänglich befürchtet wurden. Gegenüber Metformin alleine steigt die Quote lediglich von 4,3 auf 7,6 %. Dies wird insbesondere darauf zurückgeführt, dass mit der Normalisierung des Blutzuckers auch die Abwehrkräfte gesteigert werden, was eine theoretisch mögliche erhöhte Infektneigung mehr als aufzuheben scheint. Allerdings wird die Zunahme der Genitalinfektionen eher als problematisch angesehen. Hier stieg die Rate derselben Studie zufolge von 2,4 auf 8,5 % an. Die Genitalinfektionen stellten sich aber nicht als gravierend heraus und sind leicht zu behandeln.

Insgesamt scheint das neue Behandlungskonzept vielversprechend zu sein, zumal es Blutzucker senkende Effekte mit Gewichtsreduktion vereint. Experten warnen allerdings auch davor, von der Harmlosigkeit der familiären renalen Glukosurie voreilig Rückschlüsse auf eine Unbedenklichkeit der iatrogen herbeigeführte Glukosurie im fortgeschrittenen Lebensalter zu ziehen. Auch die Gefahr einer Dehydrierung bei betagteren Patienten sollte nicht außer Acht gelassen werden. Insofern bedarf es hinreichend lange konzipierter klinischer Studien, um verlässliche Antworten auf die Frage der Sicherheit der neuen Substanzklasse zu erhalten.

Referenzen

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    Symposium „Innovative und optimierte Behandlungskonzepte des Typ-2-Diabetes“, 47. Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) in Stuttgart, 17. Mai 2012

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