Das Gesundheitswesen ist längst der bedeutendste Wirtschaftsfaktor in Deutschland, der auch von der Politik kräftig gefördert wird. Seit das traditionelle Werbeverbot für Ärzte praktisch aufgehoben ist, stehen Mediziner immer stärker unter Konkurrenzdruck. Die Praxis wird zum Unternehmen, der Doktor zum Verkäufer, der Patient zum Kunden und die medizinische Leistung zum Produkt. Ärzte, die sich bisher mehr der Medizin als dem Marketing gewidmet haben, werden von höchster Stelle aus fit für den Markt gemacht: Vor kurzem wurde bekannt, dass die Regierung Veranstaltungen, in denen Ärzte das Verkaufen von Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) trainieren können, mit bis zu 3000 Euro subventioniert.
Die Empörung bei den Krankenkassen und der Opposition ist groß. Die Grünen-Gesundheitsexpertin Biggi Bender hatte den Stein ins Rollen gebracht. Auf ihre Nachfrage hin räumte das Wirtschaftsministerium ein, Verkaufsseminare für Ärzte mit Steuergeldern zu unterstützen. Grundlage sei die Richtlinie zur „Förderung unternehmerischen Know-hows für kleinere und mittlere Unternehmen sowie Freie Berufe“ und damit auch für Ärzte. „Wir geben Ihnen Tipps und Anregungen, wie das Verkaufen von IGeL zum Erfolg führt und erarbeiten gemeinsam einen Leitfaden für ein gelungenes Verkaufsgespräch“ heißt es in der Werbebroschüre eines Anbieters.
Inzwischen wurde bekannt, dass auch die Europäische Union in die Förderung der umstrittenen Marketing-Seminare verwickelt ist. Die Hälfte der Subventionen für die Schulungen stammte aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF), berichtet die Ulmer Tageszeitung „Südwest Presse“ auf ihrem Online-Portal vom 07.08.2012 unter dem Titel „Auch EU fördert IGeL-Seminare.
Der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, missbilligt das Förderprogramm in einer Pressemitteilung vom 30. Juli: „Ärzte sind keine Kaufleute und deshalb brauchen wir auch keine Verkaufsseminare für Individuelle Gesundheitsleistungen.“ Der Vorstand der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), Johann-Magnus von Stackelberg, sekundiert gegenüber der Saarbrücker Zeitung: „Hier sollen medizinisch nicht notwendige Leistungen an den Mann oder die Frau gebracht werden, die offenbar nicht von alleine nachgefragt werden. Bei solchen Praktiken geht es doch längst nicht mehr in erster Linie um eine bessere Versorgung der Patienten, sondern weitgehend nur noch um die zusätzliche finanzielle Absicherung des Arztes. Ärzte, die so handeln, verspielen leichtfertig den Vertrauensvorschuss der Patienten und schaden dem Ansehen des Berufsstandes." Die Bundesregierung hat inzwischen auf die Proteste reagiert und überprüft die staatliche Förderung der IGeL-Seminare.
IGeL untergraben das Vertrauen zum Arzt
Die Selbstzahlerleistungen haben sich als lukratives Geschäftsfeld entwickelt und sind in vielen Praxen nicht mehr wegzudenken. Der Gesamtumsatz in Deutschland beträgt an die 1,5 Milliarden Euro. Allerdings ist der Nutzen der individuellen Gesundheitsleistungen stark umstritten. Der IGeL-Monitor des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes der Krankenkassen (MDS) bewertet die häufigsten Angebote aufgrund von Studien nach ihrem medizinischen Nutzen. Von 22 solcher Leistungen schneidet keine einzige positiv ab; 4 jedoch eindeutig negativ, 8 tendenziell negativ, bei 7 ist die Wirkung unklar und nur bei 3 tendenziell positiv.
Die IGeL-Angebote haben zudem unangenehme Nebenwirkungen: Sie untergraben das Image der Ärzte. Zählten die Mediziner bisher stets zur Berufsgruppe mit dem höchsten Ansehen, so kommt eine aktuelle Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung bei rund 1500 Personen in Deutschland zu einem überraschenden Ergebnis: Ärzte rangieren seit neuestem im Ansehen der Bevölkerung hinter Feuerwehrleuten, Hebammen, Krankenschwestern und Piloten erst an fünfte Stelle. Nur 34 % der Befragten gaben an, ein „sehr hohes Vertrauen“ zu Ärzten zu haben.
In derselben Studie ging es auch um die IGeL-Leistungen. 44 % der Befragten halten IGeL für medizinisch überflüssig, 41 % glauben, dass Ärzte damit nur Geld verdienen wollen. 45 % finden, dass sich das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient durch das Anbieten von IGeL verschlechtert. Die Autoren der Studie geben zu bedenken, dass die Ergebnisse zwar keine Kausalbeziehung belegen, aber sehr wohl zeigen, dass eine skeptische Haltung gegenüber IGeL-Angeboten auch mit einer skeptischen Haltung gegenüber Ärzten einhergeht.